In „Ein liebender Mann“ schildert Martin Walser Goethes Liebesbeziehung zu Ulrike von Leventzow. Die Rezension ist der erste Text unseres neuen Autors Robert.
Das Visuelle spielte für Goethe schon immer eine besondere Rolle; was nicht nur seine Farbenlehre, welche lebenslang sein Eitelkeitsprojekt blieb, unter Beweis stellte.
So beginnt Martin Walsers Goethe-Roman „Ein liebender Mann“ auch mit dem Satz: „Bis er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen.“ Es wird die Geschichte erzählt, die sich im Sommer 1823 zutrug, als der 73-jährige beinahe tot geglaubte Goethe sich erst in Marienbad und später in Karlsbad erholen sollte und währenddessen in die 19-jährige Ulrike von Levetzow verliebte.
Der Stoff ist hinlänglich bekannt und wurde schon zu dem Zeitpunkt, als sich die Romanze entspann, mit größtem Interesse verfolgt. Goethe war damals bereits eine lebende Legende, was problematisch war, denn Legenden vom Format Goethes taugen lebendig wenig zur Glorifizierung, da seine menschlichen Regungen, welche auch im Alter nochmals unberechenbar werden können, an dem bereits von den ihn umgebenden Menschen errichteten Denkmal Kratzer nehmen und das schon abschließend gefasste Urteil über den ‚Helios-Apollon’ des deutschsprachigen Raums neu zur Diskussion stellt. Als der Mensch (nicht die Institution) Goethe es damals dann noch wagte, der 19-jährigen einen Heiratsantrag zu machen, war der Skandal für seine Zeitgenossen – insbesondere für seine Schwiegertochter Otillie – perfekt.
Walser nimmt diesen Stoff, leiht dem Menschen Goethe seine Stimme, ohne ihn lächerlich zu machen oder vom Sockel des Dichterfürsten zu stürzen und erzählt die Geschichte von einem gestandenen Mann, der trotz seines Erfolges und Status all die Selbstzweifel und Unsicherheiten durchmacht, die auch ein junger Kavalier zur bewältigen hat. Um das illustratorisch zu machen, lässt Walser Goethe sich nackt vor einen Spiegel stellen und dort über seinen Körper sinnieren, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen: „Er konnte sich nicht wehren gegen eine Art Zärtlichkeitsempfindung, die er diesem Nackten gegenüber empfand. Und die Empfindung galt kein bisschen der Person, sondern allein der Nacktheit.“ Zu keinem Zeitpunkt nutzt Walser solche Gelegenheiten, um den alten Goethe zu kompromittieren, sondern versucht vielmehr in diesen Momentaufnahmen ein ästhetisches Ideal herauszuarbeiten, welches unabhängig von Kontexten (wie Alter, Stellung etc.) eine beinahe allgemeine Gültigkeit bekommt, was ja für das Ideal der Liebe ebenso gilt. Doch das Ideal trifft immer wieder auf die Realität, die Goethe nun einmal 54 Lebensjahre von seiner angebeteten Ulrike trennt, was ihn aber nicht daran hindert, ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit nahe zu sein. Als dann noch ein Jüngerer auftritt, um Ulrike den Hof zu machen, stürzen Goethes Gedanken bis auf den Selbstmord hinab und kurz darauf schöpft er neuen Mut als das allzu stürmische Vorgehen des Jünglings dem Fräulein von Levetzow missfällt; Goethe muss alle Wechselwirkungen, die Emotionen in solchen Situationen auslösen mitmachen, da er in erster Line eines ist: Ein liebender Mann!
Mehrere Episoden, die Walser im Verlauf der Geschichte aufnimmt, haben sich tatsächlich damals in Marienbad so zugetragen, auch wenn er sie literarisch modifiziert und für seinen Roman angemessen überformt, was in diesem Zusammenhang auch vollkommen legitim, wenn nicht sogar von ihm gefordert, war. Zum Glück verzichtet er hierbei darauf, Goethes Stil zu imitieren.
Inwieweit der Roman mit Walsers eigenen Biographie und Liebe zu einer jüngeren Frau korreliert, ist nur in dem Maße wichtig, wie es dem Autor hilft, Verständnis und Empathie für seine Romanfigur zu entwickeln. Hierbei verhält es sich genauso wie mit den eben erwähnten umgedichteten Episoden und Stationen der aussichtslosen Liebe: Literatur besitzt ihre eigene Wahrheit und das wusste wohl auch Goethe schon genau. So ein Zeugnis literarischer Wahrheit ist uns aus jener Zeit noch in Form der ‚Marienbader Elegie’ erhalten geblieben, die Walser in seinem Buch vollständig mit aufnimmt und von der Stefan Zweig, der diese Liebesgeschichte selbst in seinen Sternstunden der Menschheit literarisch verarbeitete, einst meinte: „Wir dürfen ihn denkwürdig nennen, diesen Tag, denn die deutsche Dichtung hat seitdem keine sinnlich großartigere Stunde gehabt als den Überstrom urmächtigsten Gefühls in dies mächtige Gedicht.“ Der letzte Vers der Elegie fasst Goethes Gemütszustand nach diesem aufreibenden Sommer am Besten zusammen:Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabseligen Munde,
Sie trennen mich und richten mich zu Grunde.