die von dilthey ende des neunzehnten jahrhunderts eingeführte trennung von geistes- und naturwissenschaften hat neben vielen interessanten neuen wissenschaften auch den irrglauben hervorgebracht, man könne oder müsse literatur verstehen.
das verstehen, das von dem genannten zur vornehmlichen aufgabe der geisteswissenschaften erklärt wurde, ist nach definition ein inhaltliches begreifen eines sachverhalts, das nicht in der bloßen kenntnisnahme besteht, sondern in der intellektuellen erfassung des zusammenhangs, in dem der sachverhalt steht. fragte man dilthey, steht damit natürlich viel mehr auf dem spiel: verstehen bedeutet, aus äußerlich gegebenen, sinnlich wahrnehmbaren zeichen ein „inneres“, psychisches zu erkennen.
dieser programmatische aufruf führte dazu, dass in eichenbäumen statt nur derselben plötzlich menschen gesehen werden oder dass man bei protagonisten der verschiedensten erzähltexte plötzlich meint, zu wissen, der autor gebe sich hier zu erkennen, ohne sich darüber im klaren zu sein, dass ein entscheidendes merkmal der literatur eben fiktionalität darstellt. doch damit nicht genug: im unterricht sehen sich literarische texte meistens mit der frage konfrontiert, was der autor damit sagen wolle – niemand macht sich hierbei darüber gedanken, dass die in den texten handelnden oder dargestellten figuren mit wenigen ausnahmen immer andere namen haben als der autor, und dass das natürlich einen grund haben muss. oder was dieses oder jenes lyrische ich hier oder dort tue – keiner bedenkt, dass dieser begriff ursprünglich zur unterscheidung des formalen ichs von einem empirischen ich eingeführt wurde, was fatale folgen hatte. er ist bis in die gegenwart hinein immer wieder gleichgesetzt worden mit der identität des autors, mit der authentizität des ausgesagten sowie mit dem rezeptiven nacherleben desselben. und hölderlin habe natürlich genauso gefühlt oder charles bukowski war wirklich äußerst gewaltätig. die kette dieses unbegründeten schwachssinns ließe sich beliebig fortführen.
wieso unbegründet?, wird man jetzt entgegnen mögen.
unbegründet, weil sich in konsequenz gedichte wie biografien lesen lassen, anstelle dessen, was sie sind: wundersame dinge, die neben vielen unverständlichkeiten oder missverständnissen auch „oft in zehn kurzen zeilen für eine sekunde den himmel aufreißen“ können, wie michael krüger sagt. unbegründet, weil personifikationen meistens dazu führen, in allem den menschen zu sehen und mit dieser erkenntnis weiterzuoperieren, alles mit „mensch, menschlich“ zu ersetzen, was natürlich die mit diesem vorgang angeregten fähigkeiten zu verbessern hilft, was aber keineswegs zum gespür für texte, zur liebe zur literatur, zu oftmals unglaublicher freude, manchmal aber auch zu unendlicher verzweiflung , zur freude an form, zur wertschätzung eines phänomens, welches himmel und erde erschaffen und genauso viel zerstören kann, zur ausbildung der meist unterschätzten eigenschaft, nämlich einfach nur zuzuhören und auch mal die schnauze zu halten usw. beizutragen imstande ist. das gegenteil dessen füllt wahrlich eine längere liste: die unfähigkeit, ironie von dessen gegenteil zu unterscheiden; die blindheit für pointen; der typische reflex, alles überall hineinzulesen, danach aber immer noch so schlau wie vorher zu sein oder gar mit völlig leeren händen dazustehen, anstelle diese dinge wirklich einmal wörtlich zu nehmen; dieser leicht verzerrte gesichtsausdruck bei unglaublich vielen menschen, wenn man sich in der öffentlichkeit über gute literatur unterhält; die vorliebe für bestseller, deren titel genauso schlecht sind wie der darin aufgetürmte, aber nie sortierte inhalt – besondere erwähnung findet hier die deutsche übersetzung der twilight-tetralogie von stephenie meyer, die immer so dämliche wortspiele darstellen wie „bis(s) zum morgengrauen“ und noch darüber hinaus eine sonderstellung einnehmen, die des werkes, dessen inhalt schlechter ist als dessen titel – und die konsequenz aus all dem: ein im-mund-umdrehen, ein blind-und-taub-sein, die völlige ignoranz gegenüber dessen, was den gegenstand einer solchen beschäftigung ausmachen sollte.
all das hat nichts mit dem zu tun, was sich literatur nennt oder genannt wird. literatur will nicht verstanden werden. oder hat sie jemals etwas anderes behauptet? sie führt dies immer wieder eindringlich vor. ein wunderbares beispiel hierfür ist gerhard falkners „naked lunch poem II“:
du wirfst die letzte frage auf
ich kann sie lecken und fassen
der stuhl steht auf vier beinen
staunend unter dir
wie wohlgegründetes gesetz
unter menschlicher schwäche.
er irrt
und so ist es mit vielen. was soll man damit machen? wer fordert hier auf, zu verstehen? das gegenteil ist der fall: was ich auch versuche, der text entzieht sich mir, baut immer neue barrieren auf, fühle ich mich auf einer sicheren spur, habe ich sie plötzlich wieder verloren. aber das macht überhaupt nichts: hier über die sätze, worte, zeichen zu stolpern, macht unglaublich viel freude, bemerkt man doch, was literatur alles kann, zu was sie imstande ist und was sie bewirkt – wie viele sätze, worte, zeichen haben irgendetwas ausgelöst, verändert oder bekräftigt? es geht überhaupt nicht darum, das zu verstehen, nachzuvollziehen oder in einen kausalen zusammenhang zu bringen, sondern vielmehr darum, sich mitnehmen zu lassen, die verschiedenen wege auszuprobieren, falschen fährten aufzusetzen und wieder zurück zu müssen, sich zu verirren, zu suchen und oftmals unverhofft zu finden, und vor allem: einfach abzuwarten, was passiert und sich überraschen lassen, was daraus wird.{module Erik Münnich}