Es gibt Bräuche, die sind niemals tot zu bekommen. Wie etwa der des Poesiealbums, das man in die Hand gedrückt bekommt von Klassenkameraden. Da soll man dann ein paar Verse reinschreiben und so die Verbundenheit mit ihm oder ihr deutlich machen. Die Verse sind meist nur eines: kitschig und auf Dauer peinlich. Aber darauf kommt es weniger an als auf die persönliche Geste. Von Dichtkunst ist dabei niemals die Rede. Von Veröffentlichung schon gar nicht.
In Poesiealben hab ich zu Schulzeiten immer nur die Standardverse geschrieben. Irgendwas von Goethe passt eigentlich immer. Oder auch mal – Abwechslung muss sein – was von Schiller. Nur einmal wurde ich fantasievoller und schrieb ein Gedicht von Wilhelm Busch auf die Seite. Aber der Empfänger war danach garantiert nicht mehr mein Freund. Er war es auch vorher nicht gewesen und so hatte ich bewusst einen Spottvers gesucht. Eigene Texte hab ich damals niemals geschrieben. Andere in der Klasse schrieben gar eigene Reimereien um ihre Schmeicheleien herum. Die waren dafür beliebt.
Die Texte fand ich aber peinlich. Gedichte nannten sie es. Grob gezimmert waren sie nach dem Schema: Reim dich oder du bist verhaftet. Zum Glück hat damals niemand solche Texte veröffentlicht. Gedichte, die gedruckt waren, die hatten eine Qualitätskontrolle durchlaufen. Man konnte sie mögen oder hassen – es waren wirklich Gedichte, keine Reimübungen.
Was früher im Poesiealbum oder der Hochzeitszeitung vor einer breiten Öffentlichkeit versteckt wurde, findet man heute leider an jeder zweiten Ecke im Internet. Man muss bloß mal bei Twitter den Suchbegriff #lyrik oder #gedichte eingeben. Aber man sollte wirklich eine starke Nerven dafür haben: Jeder der mag, kann sich Dichter nennen. Und jede Reimübung ist gleich ein Gedicht und braucht seine Leser. Das Internet ist demokratisch. Jeder ist sein eigener Verleger. Und jeder blamiert sich, so gut er kann.
Ich geb’s zu: Auch ich hab Gedichte geschrieben: Texte, mit denen ich meine pubertär verwirrten Gefühle auf den Punkt bringen wollte. Ok, ich hab eigentlich fast nie gereimt, das kam mir mit meiner Sprache schon immer lächerlich vor. Aber trotzdem: lesen sollte diese Texte außer mir eigentlich niemand. Oder wenn dann nur ganz gute Freunde. Da ging es weniger um Dichtkunst. Wichtiger war die Mitteilung von Inhalten, die man anders schwer auf den Punkt brachte.
Nein, ich hätte mich damals nie als Dichter zu bezeichnen gewagt. Ein Dichter, das ist ein Künstler des Wortes. Bei dem merkt man nicht, wie schwer die Arbeit gewesen ist, wenn der Vers einmal fertig ist. Da stimmt dann jedes Bild und jede Silbe. So und nicht anders muss das sein. Geträumt hab ich natürlich davon, so etwas zu können. Und daher hab ich jede Menge Lyrik gelesen. Nicht die für meine Augen ktischigen Sachen wie Eva Strittmatter (sowas fanden meine Schwestern vielleicht gut – ich aber niemals!) sondern [[Johannes Bobrowski]] oder den unvergleichlich unverständlichen [[Rafael Alberti]] mit seinen bildreichen Gesängen an die Engel. Später dann auch noch Uwe Gressmann, jede Menge Brecht und weil er damals so angesagt war auch Ernesto Cardenal (der mich dann weiterführte zu Pablo Neruda). Ganz unterschiedliche Sprach- und Bilderwelten taten sich hier auf. Jeder sprach irgend eine andere Saite meines Innenlebens an. Und so änderten sich die Gedichte im Tagebuch. Plötzlich begann ich an den Texten zu arbeiten, anstatt sie einfach aus mir raus zu kotzen. Ich feilte an ihnen und versuchte sie zum Glänzen zu bringen. Irgendwann wehrte ich mich nicht mehr, und las einige von den Texte vor den Klassenkameraden vor. Die Reaktionen waren eindeutig: Die guten Freunde verstanden meine verpackten Gefühle. Die nicht so guten Freunde waren höflich genug, nicht in Lachen auszubrechen. Und einer meinte: Da hast Du noch viel Arbeit vor dir. Hast Du eigentlich schon mal diese Leute gelesen? Und er zählte paar Lyriker auf, die mir damals noch unbekannt waren. Vielleicht war Else Lasker-Schüler dabei, sicherlich Trakl und noch andere Expressionisten.
Das Selbststudium ging also weiter und weiter. Und die Verse fingen einfach nicht zu strahlen an. Sie blieben hölzern und ungelenkt. Die Sprache wollte mir nicht elegant werden. Denn ich war es ja auch nicht. Dennoch freuten sich selbst Verwandte, wenn man ihnen die Arbeiten zeigte. Aber irgendwann war einfach Schluss. Mit mir und der Lyrik würde es nichts mehr werden. Die „fertigen“ Gedichte zogen noch einige Jahre mit mir quer durch Deutschland bis sie unbewusst auf dem Müll gelandet sind. Niemand mehr wird den phänomenalen Zyklus „Von den Schatten“ zu lesen bekommen. Ich auch nicht. Zum Glück.
Schade nur, dass mir mit dem Beginn des Studiums nicht nur die Lust am Schreiben von Versen sondern auch die am Lesen selbiger immer mehr abhanden kam. Nur selten noch trafen mich Gedichte im Inneren. Klar: ich konnte mich kaputt lachen, als damals Kurt Schwitters die Runde machte. Und Jandl habe ich sogar verschlungen. Und als Sarah Kirsch in der Stadt war, lauschte ich ihren Gedichten fast atemlos. Dann kam die Arbeit und der Zwang, sich erwachsen zu geben. Man las zur Entspannung oder was grad für den Beruf gebraucht wurde. Das Blickfeld engte sich ein. Die Lektüre richtete sich immer mehr nach dem, was Freunde oder die Zeitungen empfahlen. Und da kamen keine Gedichte mehr vor. Bei den Freunden nicht, die lasen eher Romane oder Fachbücher. In den Zeitungen aber auch nicht. Denn Dichtung scheint ihnen nicht wirklich wichtig zu sein.
Heute weiß ich daher nicht mehr, welche großen Dichter es hierzulande gibt. Und wenn ein Lyriker den Nobelpreis bekommt, dann hab ich garantiert noch nie was von ihm gelesen. Denn dass der Preisträger wirklich mal [[Bob Dylan]] heißen wird, diese Hoffnung hab ich inzwischen aufgegeben. Aber die Sehnsucht, den Vers zu finden, der in aller Kürze den Tag zum Strahlen bringt, der einem eine neue Welt erschließt, diese Sehnsucht taucht immer mal wieder auf. Und darauf will ich auch nicht verzichten. Auch wenn ich selbst nicht mehr den Ehrgeiz habe, diesen Vers selbst zu schreiben.