Unter Historikern ist es immer mal wieder eine Streitfrage, ob einzelne Menschen den Gang der Geschichte wirklich verändern können. Es ist allerdings unbestreitbar, dass etwa in der Musik einzelne Künstler es sind, die immer wieder ganze Epochen prägen. Wenn man etwa die Geschichte des Blues in der DDR schreiben will, dann muss ein Musiker wie Jörg Schütze, genannt „Speiche“ unbedingt genannt werden. Schon in den 60er Jahren gehörte er zu der Diana-Show-Band, die harten Rock mit drei Gitarren präsentierten. Und in den 70er Jahren gründete er gemeinsam mit Frank Gahler Monokel, die Bluesrockband der Berliner Szene. Am 31. Mai ist Speiche nach langer Krebserkrankung im Alter von 73 Jahren verstorben.
Aufgewachsen im Prenzlauer Berg wurde die Mauer bald schon zu einengend für Speiche. 1965 versuchte er zu fliehen und landete für paar Jahre im Gefängnis. Und so wie er wurden auch seine Freunde mit ihren langen Haaren als Gammler in der Presse verschrieen. Sie wurden ein beliebtes Beobachtungsobjekt für die Stasi – und zu Liebling der Blueser- und Kundenszene der 70er und 80er Jahre.
Vorläufer der Gruppe war die 1964 ins Leben gerufene Diana-Show-Band. Dort spielte Jörg Schütze, genannt Speiche, den Bass. An der Gitarre war Achim Mentzel. Sie „sangen ein Kauderwelsch-Englisch, das man von Radio Luxemburg kannte.“ Und sie hatten lange Haare und ausgeflippte Klamotten. Im Oktober 1965 brachte es die Band sogar auf den Titel des Satire-Magazins „Eulenspiegel“: „Kamm drüber“ lautete die Geschichte über die Gruppe und ihre langhaarigen Fans.
Als der Artikel erschien, saß Speiche wegen versuchter Republikflucht im Knast. Diana Show war Geschichte. Die anderen Musiker waren fast zeitgleich zur Armee eingezogen worden. Und auch die Musik hatte sich weiter entwickelt. Jimi Hendrix und Cream waren erschienen. Und irgendwann kam noch der harte Southern Rock der Südstaaten bis in die DDR.
So wurde also Monokel gegründet. Zu den Gründern zählte neben Speiche Frank Gahler als Sänger und Harmonikaspieler. Andere Musiker kamen und gingen immer wieder mal. Monokel spielte den Blues mit dem Dampfhammer. Sie spielten Songs von Canned Heat, den Allman Brothers, Leynyrd Skynyrd und eigene Titel. Mit „Bye Bye Lübben City“ haben sie eine Hymne für alle Blueser der DDR-Zeit verfasst. „Das Monster vom Schilkinsee“ ist nicht nur ein Lied über die Schnapsproduktion in der DDR sondern irgendwie auch ein Stück über den Alkoholkonsum von Musikern und Fans der Band. Gemeinschaftliche Saufgelage gehörten von Anfang an zu der Band, ob auf offener Bühne oder im Probenraum. Oft waren Band und Zuhörer am Ende des Konzerts im kollektiven Vollrausch. Die Mengen von Alkohol, die die Musiker täglich vernichteten ist mittlerweile Legende. Feinfühlige Lyrik und filigrane Solos waren da natürlich nicht zu erwarten.
Ähnlich wie Diestelmann, Engerling oder andere Bluesmusiker der DDR war Monokel ein ständiges Beobachtungsobjekt für die Stasi. Die unwahrscheinliche Popularität war den Oberen mehr als suspekt. Und so wurden jegliche Anträge auf Auslandstourneen abgelehnt. Bis auf eine: gemeinsam mit dem Musiker Hans die Geige tourte man an der Baustelle der Drushba-Trasse in Sibirien.
1981 stieg Gahler aus, um mit No. 55 Karriere zu machen. Als Sänger stieg Bernd Buchholz (ehemals Passat) ein und von Berluc wurde Gerd Poppel als dritter Gitarrist abgeworben. 1986 erschien ihre erste LP. Damit war eigentlich niemand zufrieden. Man hört der Scheibe an, dass die meisten Titel im Schnelldurchlauf im Studio runtergehauen wurden. Und nur bei wenigen Texten fehlt der pädagogische Zeigefinger. Ein paar der Lieder waren zuvor schon auf einem Sampler über Berliner Blues-Bands erschienen.
Nach dem Mauerfall gab es erste Versuche, auch im Westen Fuß zu fassen. Unter anderem war man damals mit Stefan Diestelmann gemeinsam in Bayern unterwegs. Mittlerweile war die Band so gut wie pleite: Der Manager hatte sich nach dem Mauerfall mit der Bandkasse ins Ausland abgesetzt. Und die eigene Tonanlage fiel einem Brand im Berliner „Tacheles“ zum Opfer.
Doch zunächst ging die Geschichte weiter. 1995 erschien mit „Monokel“ das zweite Album. Allerdings stieg Speiche aus, schon bevor das Album erschien. Obwohl – ob er ausstieg oder die anderen gefeuert hat – als Monokel Blues Band war er weiterhin live unterwegs. Die anderen mussten sich Monokel Kraftblues nenne. Eine Versöhnung gab es nicht. Bandjubiläen wurden immer konsequent getrennt gefeiert. Plattenveröffentlichungen waren nach der Wende allerdings Mangelware. Und musikalisch kam für Speiche erst dann eine Frischzellenkur, as Peter Schmidt mit seiner Gitarre einstieg. Nach 40 Jahren wurde Speiches Monokel 2017 zu Grabe getragen. Das Nachfolgeprojekt hieß einfach Speiches M.
Zwischenzeitlich hatte Speiche auch eine der wichtigsten Blueskneipen der Hauptstadt. Aus gesundheitlichen Gründen zog er sich dort allerdings schon vor längerer Zeit zurück. Und auch die Live-Auftritte hatten in den letzten Jahren immer mehr abgenommen. Mit Jörg Schütze ist jetzt ein Musiker gestorben, der bei seinen Kollegen äußerst beliebt war, der als Bassist eine wild dahin rockende Truppe zusammen halten konnte. Nicht nur im Osten Deutschlands wird Speiche extrem fehlen.