es war vorbei, dieses: „achtung!“, immer dieses „achtung!“, und alle hatten stramm zu stehen. vorbei, diese ewigen meldungen des verwahrraumältesten, die täglich mehrfachen zählappelle. vorbei die klamotten, die klos, der penetrante sittenstrolch waldi, der laufschritt, die herrschaft der schließer.

nie wieder, sagte ich mir und warf einen blick auf das mir soeben ausgehändigte stück papier:

Entlassungsschein

Herr Sorgenich, Peter<

geb. am 31.05.1957 in Loitz

wurde am 21. Mai 1974

aus der Strafvollzugsanstalt Neustrelitz

nach Demmin entlassen.

Dieser Entlassungsschein gilt bis 22.05.1974 als Legitimation.

Obengenannter …….. befand sich vom 10.04.1974 bis 21.05.1974

im Strafvollzug – in Untersuchungshaft

Pfändungs- und Überweisungsbeschluß liegt – nicht – vor.

Eigengeld sowie Reisegeld in Höhe von 44,75 M und Fahrkarte erhalten.

„und Fahrkarte“ sowie „in Untersuchungshaft“ waren durchgestrichen.

ich drehte den dünnen zettel um:

Personalausweis am 11.04.74 an VPKA Demmin gesandt.

Folgende orthopädische Hilfsmittel ausgegeben:

………………………………….. am ………………..

………………………………….. am ………………..

Impfung am ……………. Serum ………………

Impfung am …………….. Serum ………………

Röntgen- bzw. Schirmbildaufnahme der Brustorgane am ……………

Dienstsiegel Unterschrift

Abt. Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises

gemeldet am …..

Polizeilich gemeldet am ………….. in ……………………

(Entlassungsschein sorgfältig aufbewahren, bei Verlust kein Ersatz)

gott, was taten die eigenen klamotten gut. auch wenn es die peinlichsten textilien waren, die meine mutter vor der verhaftung herausgesucht hatte.

ich unterschrieb noch einen wisch, bekam die vierundvierzig mark und fünfundsiebzig pfennige ausgezahlt und passierte die letzte schleuse.

als ich das zuchthaus durch eine allerletzte tür verließ, schlug mir etwas mit einer derartig lebensbejahenden gewalt entgegen, das ich nur als späten frühling einordnen konnte. so hatte ich die freiheit nicht mehr in erinnerung, denn als ich einfuhr, war es draußen kalt und grau gewesen. anfang april, und nicht ein grünes blatt hatte sich an einem baum befunden.

und nun das! und so angenehm warm. und die geräusche. es war nicht zu fassen, und ich hatte das gefühl, all diese plötzliche macht würde mich angenehm zu boden ringen. ein einziger, aber großer baum stand vor dem gebäude, doch dieser eine baum strahlte so unendlich viel satte kraft aus, dass er mir die beine weich machte. und erst die straße hinab! grüne bäume, volle kronen, und ich sah leute ohne gelbe streifen auf trostlosen graubraunen klamotten, sah eine frau im rock. ich ging und ging und alles kribbelte in mir. freude und lust, und ich wusste nicht einmal worauf. aber ich wusste woher und spürte abermals dieses nie wieder! so stark und ausgeprägt,

dass ich nicht einmal glauben konnte, dass es so einen schlimmen ort in diesem land überhaupt gab. ich war kaum draußen, und ein merkwürdiger strudel in mir ließ das gerade hinter mir liegende zuchthaus einfach verschwinden.

und immer wieder sah ich frauen, alles roch so saftig, selbst der benzingeruch vorbeifahrender autos hatte einen angenehmen hauch, dieses grün, diese geräusche, diese beine unter den röcken der frauen. und zwischendurch war mir so, als würde ich die haut von frauen tatsächlich riechen.

vier oder fünf kilometer ging ich diese straße herunter und gelangte an einen kiosk. die verkäuferin hatte aufgetürmte haare und einen roten mund, doch sie sagte nichts.

„einmal die kleinen juwel, bitte“, sprach ich sie an.

ich schaute nur auf ihren roten lippen, und sie öffneten sich und gaben mir ein: „haben wir nicht“ zurück.

„dann nehme ich eine schachtel f6, bitte.“

„sind alle.“ und dann war der rote mund erneut geschlossen.

„cabinet oder semper?“, fragte ich vorsichtig nach und beobachtete das rot umrahmte loch.

„ist alles alle.“ und zu war der mund.

„dann nehme ich, äh, ne packung schweinejuwel, ich meine, einmal juwel 72.“

die roten lippen drehten sich weg, ich sah die aufgetürmte frisur von hinten, die haare waren blond, doch sie wirkten ausgeblichen, waren flüchtig zusammengesteckt und erinnerten mich an einen handstrauß zusammengeraffter getreidehalme.

„zweifünfzig.“

ich bezahlte, riss vor dem laden die packung auf und mir fiel ein, dass ich gar kein feuer hatte, marschierte zurück und forderte schon in der tür:

„und einmal holz, bitte.“

zurück auf der straße zog ich an der juwel 72, bis meine wangenknochen schmerzten.

„menschenskind, was für schweinezigaretten!“, schimpfte ich vor mich hin. das ding zog sich so schwer, dass ich die zigarette nach der hälfte aufgab und austrat.

in der stadt entdeckte ich ein hinweisschild: neubrandenburg, und ich ging in richtung neubrandenburg, erreichte das ortsausgangsschild

und befand mich nach nur wenigen kilometern auf einer chaussee, die so allmächtig mit ihrem grün auf mich drückte, dass ich mich geradezu glückselig fühlte. ich meinte, mich unter einen baum legen zu müssen, um ewig dort zu sterben. zwischendurch aber fühlte ich mich auch so groß und mächtig, dass ich dachte, das leben ist wirklich das wunderbarste, dass kein tod jemals mein leben erreichen könnte, selbst die schrecklichsten kriege nicht, keine zuchthäuser, keine konzentrationslager, keine arbeitslager, keine irrenhäuser,

kein nichts, nichts, nichts …

und es wurde intensiver und intensiver. die chaussee wandelte sich in eine sich seit jahren selbst überlassene allee. die baumkronen waren

an einigen längeren abschnitten in ihrem mächtigen und prächtigen grün über der straße wie zusammengewachsen. ich ging wie durch einen grün überwucherten gang, sah in der ferne nichts als diesen mich mit allen sinnen packenden tunnel, und wenn sich von weitem eine kurve zeigte, war mir, als öffnete sich hinter ihr eine unbekannte herrliche welt, die ich in meiner schier glückseligen ohnmacht nie wieder verlassen müsste.

ich trabte wie umnachtet der unendlichkeit entgegen. einer ferne, die unerschöpflich und frei wirkte, einer weite, die für mich niemals mit

einer nächsten stadt aufhören durfte.

das neben mir haltende fahrzeug bemerkte ich erst, als es schon stand.

zwischen der wuchtigen allmacht der grünen allee öffneten sich die die türen des streifenwagens der volkspolizei. zwei uniformierte stiegen aus: „tach, personenkontrolle! den ausweis mahh!“

ein kieslaster fuhr vorbei und hupte. er hinterließ zwei unterbrochene streifen verlorenen kieswassers auf der straße, und es sah aus, als hätte ein seltsames wesen ununterbrochen und im laufschritt die straße vollgeheult.

ich holte meinen entlassungsschein hervor und reichte ihn rüber.

„aha, hier guck mahh!“, zeigte der eine dem anderen meinen entlassungsschein.

„alles klar, ich habs gewusst. und was machst du hier auf der straße, gerade mal vorhin aus dem zuchthaus raus?“

„ich reise per anhalter nach hause“, antwortete ich.

„hier wird nicht per anhalter gefahren, sag ich dir, damit das ein für allemal klar ist!“, schnauzte mich der ohne meinen entlassungsschein an.

„na, dann gehe ich eben zu fuß“, gab ich zurück.

„sag mahh, nach demmin zu fuß, werd mahh nicht frech hier, du!“

„behandeln Sie mich bitte wie einen normalen bürger. ich bin strafentlassen, sagen Sie Sie zu mir“, forderte ich die beiden streifenpolizisten auf und blickte auf die vollgeheulte straße.

„du frecher hund, du, jetzt ist genug hier! spuck nicht solche großmäuligen, flapsigen töne, sag ich dir, sonst bist du gleich wieder da, wo du hergekommen bist!“

ich hielt auf der stelle den mund.
„einsteigen!“
als ich im grünen polizeifahrzeug saß und die frühsommerliche pracht an mir vorbeiziehen sah, dachte ich zurück an die knastküche, doch ich formte mir einen angenehmen gedanken, versank in die wiederholung, in einen augenblick, den ich beim wurstschneiden schon einmal hatte.
ich dachte wie in der küche darüber nach, was für schöne, lichte momente es doch noch in der kindheit gegeben hatte. dass die welt einem doch schön vorkam, schön vorgekommen war, wenn man bei einer geburtstagsfeier in den kurzen phasen ohne aufsicht der mutter mal die drehkurbel eines handquirls betätigen und die sahne schlagen durfte. da hatte ich das gefühl, doch noch zu etwas zu taugen …
die karre hielt, und ich schaute mich um. wir standen vor dem eingangsportal des neustrelitzer bahnhofs.
„so, und nun sieh zu, dass du vernünftig mit der bahn nach hause fährst! raus jetzt!“
als ich ausstieg, stiegen die polizisten auch mit aus, betraten mit mir zusammen die bahnhofshalle, schauten sich um, übergaben mir meinen entlassungsschein und gingen wortlos wieder raus. ein paar wartende leute starrten mich an, und ich ging schnurstracks in die mitropa-gaststätte.
ein gewirr von stimmen und graubrauner qualm waberten mich schlagartig ein. nicht ein einziger platz war frei. ich zwängte mich an den
tresen. der tresen war dermaßen dicht umlagert, dass ich mit meinem körper schieben und drängeln musste, um doch noch in die nähe der zapfstelle und eines bieres zu kommen.
als ich bezahlen wollte, fiel mir geld zu boden, aber es war sinnlos, sich nach dem geld zu bücken. ich trank das bier sofort am tresen. doch mit dem dritten bier geriet ich zurück in die mitte des raumes. ein zug war eingefahren, und die tresentraube war lichter geworden, selbst einige plätze an zwei oder drei tischen waren jetzt frei.
„ist hier noch frei?“, fragte ich eine ältere frau mit straff gebundenem blümchenmusterkopftuch.
sie nickte, ohne hochzuschauen. neben ihr saß ein junge, etwa so alt wie ich, und schielte. er schaute an seiner vor ihm liegenden bockwurst vorbei. neben der bockwurst lag eine nass geschwemmte abc-zeitung.
„mutti, kann ich noch eine fassbrause haben?“, fragte ein vielleicht zehnjähriges mädchen.
mutti?, staunte ich. war die alte nicht viel zu alt? vor der mutti standen ein halbes bier und ein leeres schnapsglas. die alte nickte, nahm das leere schnapsglas und ließ einen letzten durchsichtigen tropfen ins bierglas gleiten, drückte dem mädchen das schnapsglas in die hand, das kind sprang auf und rannte mit brause- und schnapsglas in richtung tresen.
ich wollte mir gerade auch noch ein bier holen, als die tür zur mitropa aufging und zwei bahnpolizisten in dunkelblauen, fast schwarzen uniformen den saal betraten.
ich wartete ab und fummelte mir eine schweinejuwel aus der packung in meiner anoraktasche. der lange anorak hing über die stuhllehne hinaus bis auf den keimigen boden der mitropa. vor der alten mutti lag eine schachtel semper.
„entschuldigung, würden Sie vielleicht drei semper gegen eine schachtel juwel 72 tauschen?“, fragte ich die frau.
sie nickte, klopfte drei semper aus ihrer schachtel, und ich schob ihr die packung juwel 72 zu.
„danke.“ dann steckte ich mir eine an, zog tief und genüsslich den qualm ein, und beim auspusten hörte ich: „personenkontrolle! Ihren ausweis bitte!“
ich schaute hoch und blickte in zwei finstere, wie eingefroren wirkende gesichter und fummelte erneut im anorak herum und zückte meinen entlassungsschein.
einer der bahnpolizisten zog ein großes dunkles buch aus seiner ledernen umhängetasche hervor, blätterte es durch und verglich irgendwelche eintragungen mit den daten auf meinem entlassungsschein. wahrscheinlich glich er mitgeführte namen einfach nur mit meinem ab.
„ich kann da gar nicht drinstehen. ich kann doch gar nicht gesucht werden, weil ich heute erst entlassen worden bin. steht doch alles auf
dem zettel“, kommentierte ich sein umständliches suchen und vergleichen.
in der mitropa-gaststätte hatte das stimmengewirr merklich an lautstärke verloren. hin und wieder ein räuspern, gläserspülen und gläserklirren übertönten vereinzelte stimmen.
ich versuchte, eine bedienung heranzuwinken und schaffte es tatsächlich, dass jemand an meinen tisch kam.
„der bekommt hier gar nichts mehr!“, empfing einer der bahnpolizisten die bedienung. „der geht nach demmin oder zurück in den verwahrraum!“
„komm mal mit raus!“, schnauzte mich der andere an.
ich schnappte mir meinen anorak und betrat mit den beiden den vorraum zur gaststätte, hörte im hintergrund das wieder einsetzende stimmengewirr in der mitropa-kneipe, ging mit ihnen weiter in eine kleine bürobude der bahn.
„taschen leer machen und auskrempeln!“
ich machte meine taschen leer, reichte ihnen meine streichhölzer und mein entlassungsgeld und krempelte die taschen um.
inzwischen hatte sich einer der bullen auch schon meinen anorak vorgenommen.
„wo hast du denn das ganze geld her!?“
„steht alles auf dem entlassungsschein“, antwortete ich.
der uniformierte schaute mit zusammengekniffenen augen auf den schein: „da fehlt aber schon was. komm mit!“
sie nahmen mich in ihre mitte, gingen mit mir zurück in die bahnhofshalle und an den fahrkartenschalter.
an der kasse saß eine frau in uniform und mit einem blechemblemgeschmückten häubchen auf dem kopf, und die beiden bahnhofspolizisten gaben ihre bestellung auf: „einen fahrschein nach demmin!“
auf dem blechemblem der uniformierten fahrkartenverkäuferin waren räder einer eisenbahn mit flügeln dargestellt, und die beflügelte frau
fragte: „mit rückfahrt?“
„mit rückfahrschein?“, lachten die beiden dunklen mitropa-läufer.
„ohne rückfahrt“, sagte ich.
die bullen bezahlten mit meinem geld den fahrschein, reichten ihn mir zusammen mit dem restlichen geld, gaben mir meinen entlassungsschein zurück, und ich hörte: „sieh zu, dass du nach demmin kommst, sonst bist du heute abend wieder da, wo du heute morgen hergekommen bist, das versprechen wir dir!“
ich stopfte alles in die taschen, behielt nur den ausgehändigten, winzigen fahrschein aus harter pappe in der hand, wandte mich ab.
„und nachher meldest du dich noch bei deinem abschnittsbevollmächtigten und morgen in der abteilung inneres beim rat des kreises, und
verlier den fahrschein nicht …“
ich suchte den fahrplan und las, dass in über einer stunde ein zug nach stralsund fuhr, ging an einen winzigen kiosk: „eine schachtel kurze juwel, cabinet, semper oder f6.“
„hab ich nicht“, maulte die verkäuferin.
„dann nehm ich einmal schweinejuwel.“

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