Ein Klassenzimmmer um die Jahrtausendwende irgendwo in Djibutti, einer kleinen Republik in Ostafrika neben Eritrea, Äthiopien und Somalia. Das französische Kulturzentrum veranstaltet eine Lesung für Schulkinder, mit einem prominenten Gast. Zwei Kinder erheben sich und fordern den Besucher unvermittelt auf, etwas über die Stammeskriege zu schreiben, schließlich sei er doch ein weltberühmter Schriftsteller. Sie und all die anderen wären die Opfer der Stammeskriege.
Ahmadou Kourouma hat dieses Geschichte oft erzählt, wenn nach der Inspiration für seinen letzten Roman gefragt wurde. „Für die Kinder von Djibouti: Auf eure Bitte hin wurde dieses Buch geschrieben.“, steht als Widmung ganz vorne, auch wenn „Allah n‘est pas obligé“ (dt. „Allah muss nicht gerecht sein“) größtenteils in Liberia spielt. Doch hier wie dort erschreckt, wie chaotisch, brutal und verworren sich breits die noch nicht literarisierte Wirklichkeit präsentiert.
Teil 3: Allah muss nicht gerecht sein (Albrecht Knaus Verlag, München 2002)
Birahima vom Volk der Malinké ist zehn oder zwölf Jahre alt, so genau weiß er das nicht. Außerdem frech und ungebildet, mit einem äußerst begrenzten Wortschatz. „Ein kleiner Neger“, wie er sich selbst vorstellt, der nur schlecht Französisch spricht. In Liberia war er, hat viele Menschen mit der Kalaschnikow getötet, Hasch geraucht oder harte Drogen genommen. Davor war er ein Straßenkind und davor, für zwei Jahre, ein Schulkind.
So weit, so lakonisch. So normal.
Ahmadou Kourouma wählte für seinen Roman über die Zeit der Stammeskriege in Liberia eine ungewöhnliche Erzählfigur. Ein kleiner Junger, Kindersoldat in nahezu allen größeren Rebellengruppen Liberias der frühen neunziger Jahre, erzählt seine Geschichte. In seinem ganz eigenen Tonfall, seiner ganz eigenen Sprache. Kourouma greift dafür in Gestalt seines kleinen Protagonisten zu einem Trick:
„Um mein chaotisches verdammtes Leben in einer einigermaßen angemessenen Sprache zu erzählen, um mich nicht bei den schwierigen Wörtern zu verheddern, benutze ich vier Wörterbücher.“
Larousse und Petit Robert, das Verzeichniss der lexikalischen Besonderheiten des Französischen in Schwarzafrika und für das englischsprachige Liberia den Harrap‘s zur Erklärung des Pidgin Englisch erlauben es Kourouma, seinen kleinen Helden auch zu komplexen Zusammenhängen konkret Stellung nehmen zu lassen. Der eigene Zungenschlag von Birahima geht dabei nicht verloren, den zahlreichen Flüchen des Jungen sei Dank:
„ Faforo! bedeutet: der Schwanz meines Vaters oder des Vaters oder deines Vaters.
Gnamokodé! bedeutet: Bastard.
Oder Walahé! Walahé! bedeutet: im Namen Allahs.“
Und Gründe zum Fluchen gibt es für den Vollwaisen Birahima mehr als genug: Er wächst in Horoudogou auf, im Dorf Togobala. Auch Kouroumas erster Roman, „Der schwarze Fürst“ spielt teilweise an diesem Ort, der Autor selbst ist in der heute zu Guinea gehördenen Region aufgewachsen.
Birahima jedoch tut das unter unglücklichen Vorzeichen: Früh stirbt sein Vater, seine Mutter kann sich aufgrund eines Geschwürs am rechten Bein nur kriechend fortbewegen. Eine Behandlung im örtlichen Krankenhaus wird durch eine nächtliche Entführung verhindert, die Verwandschaft misstraut den weißen Ärzten. Als Birahima das Gerücht zu Ohren kommt, seine Mutter sei eine Seelenfresserin und verspeise des Nachts mit anderen Hexen Seelen und ihr eigenes Geschwür, wendet er sich von ihr ab und wird ein Straßenkind.
Schließlich stirbt sie und Birahima bereut, den Gerüchten der Hexer aufgesessen zu sein.
Doch er spürt: aufgrund des Schmerzes, den er seiner Mutter zugefügt hat, ist das Schicksal von nun an gegen ihn.
„Ihre Verwünschungen, ihre Verdammungen lasteten auf mir. Ich würde nichts Gutes auf Erden erreichen. Ich würde niemals etwas wert sein auf dieser Erde.“
Es ist dies alles Kouroumas unverkennbarer Stil: Aberglaube, Hexerei und Naturmystik werden augenzwinkernd und voll absurder Elemente erzählt.
Tante Mahan aus Liberia soll den kleinen Birahima schließlich bei sich aufziehen, muss jedoch am Abend vor der Abreise Hals über Kopf fliehen. Ihr gewalttätiger Ehemann, vor dem sie vor Jahren geflohen war, kehrt früher als erwartet in ihr gemeinsames Heimatdorf zurück. Kourouma nutzt diese kurze Episode zu einem bissigen Seitenhieb gegen die patriarchalische Familienstruktur der Malinké:
„Nirgends auf der Welt darf eine Frau das Bett ihres Mannes für immer verlassen, selbst wenn dieser sie andauernd beschimpft, bedroht und verprügelt. Sie ist immer im Unrecht.
Das nennt man Rechte der Frauen.“
Zum Glück kehrt „ein großer „Macker“ aus der großen Stadt zurück ins Dorf, Yacouba. Er hat es wahrhaftig zu etwas gebracht, wurde reich im Handel mit Kolanüssen, nicht zuletzt durch „das Anfeuchten der Bärte“, sprich das großzügige Schmieren der Beamten. Nach geschäftlichen Höhen und Tiefen beschließt Tiécoura, wie er sich aufgrund polizeilicher Verfolgung nun nennen lässt, eine Karriere als Geldscheinvervielfacher anzustreben:
„Ein Geldscheinvervielfacher ist ein Marabut, dem man an einem Tag eine kleine Hand voll Geld gibt und der einem an einem anderen Tag eine Menge CFA-Scheine oder sogar amerikanische Dollars zurückzahlt.“
Da in Liberia gerade Stammeskrieg herrscht, spekulierte Tiécoura zu Recht auf gut Geschäfte und bietet an, den kleinen Birahima dorthin zu begleiten.
„Wenn man sagt, es herrsche Stammeskrieg in einem Land, so bedeutet das, dass die großen Straßenräuber das Land unter sich aufgeteilt haben.
[…] Sie können vor den Augen der Öffentlichkeit Unschuldige, Kinder und Frauen töten.“
Stammeskrieg bedeutet schließlich auch eine stattliche Anzahl von Rebellenführern, die sich mit magischen Amuletten und Talismännern (Grigris) ausgestattet wissen wollen, zum Schutz vor gegnerischen Kugeln.
Die Freude auf Liberia ist auch bei Birahima groß, Tiécoura verspricht ihm ein Dasein ausgefüllt mit Reis mit Fleischsoße und einer Kalaschnikow, welche ihm den den Zugang zu Schuhen, Radios, Helmen und Geländewägen sichern wird.
„Ich habe Walahé! Walahé! gerufen! Ich wollte ein Kindersoldat, ein small soldier werden. Ein Kindersoldat oder ein soldatisches Kind, das ist Jacke wie Hose. Ich hatte nur noch das Wort small soldier auf den Lippen. Wenn ich allein in meinem Bett lag, wenn ich Pipi oder Kaka machte, rief ich small soldier, Kindersoldat, soldatisches Kind!“
Viele Unglück verkündende Ohmen erschweren den Aufbruch, mehrmals tauchen Eulen von links auf und Tiécoura, der Fetischpriester und Gelehrte (Marabut) rezitiert zu ihrer Rettung islamische Suren und derbe Gebete einheimischer Hexenkunst. Als dann auch noch ein Adler einen toten Hasen direkt vor ihre Füße auf die Landstraße fallen lässt, schwahnt Tiécoura böses.
So wird dann auch prompt die erste Straßensperre im Kriegsgebiet den beiden Glücksrittern zum Verhängnis und sie verlieren neben Kleidung und Gepäck auch ihre Freiheit.
Hier beginnt eine Odysse durch die verfeindeten Rebellengruppen, die Leibgarden durchgeknallter Warlords und die unzählige Schlachten und Massaker.
Beide bleiben bei den ihnen zugewiesenen Aufgaben, mangels Alternativen, treu: Tiécoura zieht Kämpfern und Kommandanten mittels Grigri-Herstellung die blutigen Geldbündel aus den Taschen, Birahima hingegen zieht mit Gleichaltrigen brandschatzend und mordend durch Dschungel und Savanne, die Kalaschnikow im Anschlag und die Lungen voll Rauch.
Kourouma bleibt seinem Stil auch in seinem letzten Roman treu, eine ebenso detailreiche wie lakonische Erzählung westafrikanischer Zeitgeschichte. Birahima spricht nicht nur über Massenvergewaltigungen, zerfetzte Kinderleiber und die Erstürmung eines Klosters voller Unschuldiger, das millionenfache Abhacken der Hände und Arme. Nein, Birahima setzt all dies in seinen politischen und historischen Kontext, erläutert die Lebensläufe von Warlords wie Samuel Doe und Charles Taylor und porträtiert in Trauerreden seine verstorbenen Kameraden, Mädchen und Jungen, denen durch die Ermordung ihrer Familien ein Dasein als Kindersoldat aufgezwungen wurde.
Kouroumas Roman, ausgezeichnet mit dem renommierten Prix Renaudot, kennt keine Sentimentalitäten, keinen Pathos. Wohl aber Komik und Witz, die seinen Blick schärfen. Er kennt die Realität genau, in all ihrer Grausamkeit und Verrohung, mit all ihrer Magie und al ihrem Aberglauben. Er benennt die Väter und Mütter und das millionenfache Schicksal ihrer minderjährigen Handlanger. In einer Sprache, die eindringlich und genau ist. Es wird deutlich, dass es bei den Stammeskriegen keinesfalls um Streitigkeiten zwischen „Stämmen“ geht. Am Anfang steht das Streben nach territorialer Macht, nach Diamanten und Rohstoffen. Was bleibt ist Chaos. Ungezügeltes Morden und Zerstörung ohne nachvollziehbaren Sinn. Es ist der größte Verdienst dieses Buchs, dass es aufzeigt, das hinter all dem Elend menschliche Interessen stehen. Es bringt Licht ins Dunkel.
Das Schlusswort also gehört Birahima:
„ Setzt euch hin und hört mir zu. Und schreibt bloß alles auf. Allah muss nicht gerecht sein in allen Dingen auf Erden. Faforo (Schwanz meines Vaters)!“