Als Beitrag der Literatursendung "Plattform" auf radio 98eins zum Festival "Nordischer Klang" beschäftigten sich Erik Münnich und Robert Klopitzke mit dem Phänomen der skandinavischen Krimis auf dem deutschen Literaturmarkt. Ihr kritischer Blick ist kontrovers zu den allgegenwärtigen Lobeshymnen auf diese Literatur.
Skandinavische Kriminalliteratur und ihr überschätzter Ruf (Erik Münnich und Robert Klopitzke) Skandinavische Krimis haben in Deutschland – wie in keinem anderen Land außerhalb Schwedens, Dänemarks, Norwegens und Islands – Hochkonjunktur. Schätzungsweise 120 Autorinnen und Autoren aus diesen Ländern sind zur Zeit auf dem deutschen Buchmarkt präsent, in jeder auf ein breites Publikum ausgerichteten Buchhandlung machen sie einen beachtlichen Teil der angebotenen Neuerscheinungen aus.
Unterhaltungen über skandinavische Literatur sind – aus welchen Gründen auch immer – mit Namen wie Mankell, Marklund, Holt und Davidsen scheinbar zwangsläufig verbunden. Muss das so sein? Oder besser: warum ist das so? Diese Fragen sind der Anlass für diesen Beitrag, der sich mit Kriminalliteratur im Allgemeinen und skandinavische Krimis und deren Verfilmungen im Besonderen beschäftigen wird.
Charakteristisches Merkmal für das in der Unterhaltungsindustrie weit verbreitete Genre des Krimis ist der Handlungsverlauf: Ein den Leser in Spannung versetzendes Verbrechen (Mord oder ein ähnlich schwerwiegender Vorfall) wird durch einen Ermittler, der in den fast schon üblichen Fortsetzungsromanen Eigenschaften einer widersprüchlichen Figur – ein nervöser Tick, eine Krankheit, Alkohol- oder Tablettenmissbrauch und dergleichen – trägt, aufgeklärt. Dieser rekonstruiert das Geschehen – meist über verschiedene Zwischenfälle oder Zufälle – und identifiziert neben dem eigentlichen Motiv auch noch den Täter. Meist trägt das während der Handlung dem Leser erschlossene Milieu bekannte Züge. So sind die Orte der Handlung meist gegenwärtige Großstädte und die Figuren, die in solchem Umfeld agieren, haben starke Ähnlichkeiten mit den gesellschaftlich negativ konnotierten Prototypen: der unsympathische Bankmanager, die unheimliche Obdachlose, das Jahrmarktgesindel, der im Rollstuhl sitzende Junge, Rechtsextreme, Prostituierte usw. Diese geschilderten Aspekte verleihen Krimis ihren typisch trivialen Charakter. Mit einer Psychologisierung wird versucht, diesem Mangel Abhilfe zu schaffen. Allerdings bleiben die Motive die vom Leser erwarteten: Gier, Eifersucht, Neid, Hass, Verzweiflung, schwierige Kindheit usw.
Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt, dass diese Paradigmen, zwar teilweise abgeschwächt, konstitutiv für dieses Genre sind. Seit der Geschichte vom Brudermord Kains an Abel ist die Faszination von Schuld und dem Bösen archetypisch. Erste wesentliche Schritte in die Ausbildung dieser Gattung unternahmen der französische Anwalt Francois Gayot de Pitaval – er veröffentlichte in der Mitte des 18. Jahrhunderts spektakuläre Gerichtsfälle in für Laien verständlichen zweiundzwanzig Bänden – und Friedrich Schiller. Dieser ließ sich von Ersterem für seine Erzählung „Der Verbrecher aus Ehre“ aus dem Jahre 1786 inspirieren. Hier zeichnet er nach, wie ein Mensch zum Verbrecher wird. Eigentlicher Begründer der deutschsprachigen Kriminalgeschichte aber ist August Gottlieb Meißner, der über fünfzig Kriminalgeschichten zu Ende des 18. Jahrhunderts publizierte. Zentral war für ihn die Verlagerung der Fokussierung von Tat und Bestrafung auf deren psychologische und soziale Ursache. Dies ermöglichte dem Rezipienten eine bessere Identifikation, da Umstände und Motive der Tat verständlich gemacht und auf einen übergeordneten moralischen Diskurs verzichtet wurde. Seither haben sich zahlreiche Untergattungen herausgebildet. Die wohl bekannteste ist die Detektivgeschichte, welche die eingangs beschriebene Grundhandlung aufweist: Ein Verbrechen, dessen Geschichte zu Beginn der Handlung bereits abgeschlossen ist, wird durch einen Detektiv aufgedeckt. Der Fokus liegt also auf der Ermittlungsgeschichte, die detailliert beschrieben wird. Der Ermittler dringt tief in die Vergangenheit und Privatsphäre der Verdächtigen vor. Nebenbei wird meist auch die persönliche Geschichte des Detektiven und seiner Zeit dargestellt. Wichtige Namen sind neben Edgar Ellen Poe auch ETA Hoffmann, Adolf Müllner und natürlich Arthur Conan Doyle, den Schöpfer der wohl weithin bekanntesten Detektivfigur Sherlock Holmes.
Eng verwandt mit dem Untergenre Detektivgeschichte ist der sogenannte Whodunit, dessen Name sich von der Frage „Who's done it?“ – also „Wer hat es getan“ – ableiten lässt. Die damit angesprochene Tendenz ist notwendiges Kriterium: Dem Leser werden eine Reihe möglicher Täter und Täterinnen vorgestellt und diese agieren in einem spekulativen Rahmen nebeneinander. Hierdurch entsteht die Möglichkeit des Rätseln über den wahren Täter und somit eine Teilnahme des Rezipienten am Plot. Das unterscheidet den Whodunit zugleich von herkömmlichen Krimis: Täter oder Täterinnen sind nicht von Anfang an bekannt. Anstelle des Rätsels konzentriert sich ein Thriller auf die Gefährdung des Helden durch den Täter. Der Protagonist gerät in den Strudel des organisierten Verbrechens, während der klassische Detektiv außerhalb desselben steht. Ein weiteres wichtiges Merkmal des Thrillers ist die Spannung, die u.a. durch den Umstand erzeugt wird, dass der Leser immer mehr weiß, als der Protagonist, was dem Erzählen in der dritten Person geschuldet ist. Außerdem ist ein Happy-End nicht immer garantiert. Als Begründer dieses Subgenres gilt der Schotte John Buchan. Neben diesen drei Untergattungen existieren allerdings weitere Spielarten, die wir der Vollständigkeit halber benennen: Schwarze Serie, Gangsterballaden, Komischer Krimi sowie der Regionalkrimi. Jedes einschlägige Literaturlexikon wird gerne über diese Auskunft geben.
Skandinavische Kriminalliteratur ist eng mit den Namen Sjöwall und Wahlöö verbunden. In den späteren 60er und frühen 70er Jahren revolutionierten sie das Krimigenre mit ihrem zehnbändigen Romanzyklus um den Kommissar Martin Beck. Hierin ist eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zuständen und eine, mehr oder minder deutlich angelegte Kritik dieser vorherrschend. Dieses Merkmal ist das bis in die unmittelbare Gegenwart hinein prägende Konzept. Neben den eingangs erwähnten Autoren sind weitere zu nennen: Hakan Nesser und Ake Edwardson aus Schweden, Karin Fossum und Bernhard Borge aus Norwegen, Jussi Adler- Olsen und Dan Turell aus Dänemark, Arto Paasilinna und Leena Lehtolainen aus Finnland sowie Arnaldur Indridason und Stella Blomkvist aus Island. In den von diesen verfassten Romanen begegnen uns Ermittler, die zum Einen ambivalente Charaktere aufweisen – geschieden, einsam, zuweilen krank, aber oftmals Kette rauchend und Alkohol und Tabletten selten abgeneigt – zum Anderen aber, auch wenn sie gelegentlich Konventionen vorbildlicher Polizeiarbeit konterkarieren, eine hohe Aufklärungsquote vorweisen können.
Über Skandinavien heraus reichenden Ruhm erlangten diese Krimis allerdings durch zahlreiche Verfilmungen. Zu nennen sind hier vor allem die Wallander-Reihe Henning Mankells, die Millenium-Triologie Stieg Larssons sowie Hakan Nessers Ispektor Barbarotti. Analog zu den zahlreichen Subgenres der Kriminalliteratur gibt es auch hier viele verschiedene Formen: der Polizeifilm – in dessen Mittelpunkt die Polizeiarbeit bei der Verfolgung des Täters oder der Täter steht – die Filme, welche die Arbeit von Gerichten, der Pathologie oder anderen diesem Bereich zugeordneter Wissenschaften behandeln sowie der vorhin ausführlicher beschriebene Thriller. All diesen Ausprägungen ist gemein, dass das Handlungsumfeld, die in diesem agierenden Figuren sowie die geschilderten Verbrechen nicht ohne einen hohen Anteil von Stereotypie und dem Spiel mit verschiedenen Ressentiments auskommen. Was macht jetzt den skandinavischen Krimi und dessen Verfilmungen – wie so gerne von der hiesigen Leserschaft behauptet – so außergewöhnlich und wieso wird immer wieder darauf abgestellt, diese seien ein Teil ernsthafter Gegenwartsliteratur, die sich mit den drängenden Fragen der Zeit auseinandersetzt? Die Antwort lautet: Nichts! Wir wollen an dieser Stelle auf keinen Fall die Freude an der Lektüre dieser Werke nehmen, allerdings gibt es zahlreiche Belege, dass diese zwar einige Parallelen zu unserer heutigen Zeit und der für sie spezifischen Probleme aufweisen, sich mit Letzteren aber nicht subversiv auseinandersetzen.
Die ausschlaggebenden Faktoren für die Behandlung der Gegenwart sind jedoch andere: die Erzeugung von Spannung, die jedem Krimi eingeschrieben ist sowie das Publikum, welches sich durch Spekulation um die wahren Täter irgendwie beteiligen kann. So gesehen unterscheidet den skandinavischen Krimi nicht viel von den Werken des oben erwähnten Kriminalautoren Meißner aus dem 18. Jahrhundert, dessen Erfolg ja vor allem auf der Möglichkeit des Rezipienten, sich mit Täter und Motiven der Tat zu identifizieren, beruht.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der oftmals verschwiegen wird, ist die Stereotypik, welche konstitutiv für Krimis erscheint. Diese ermöglicht eine Vereinfachung der Handlung sowie der Figurengestaltung. Das Aufgreifen spezifischer, einem breiten Publikum bekannter Typen – oftmals Angehörige verschiedener Minderheiten – führt zur Aktivierung weit verbreiteter Vorurteile und erleichtert eben das Rätseln, das auf die „Falsche-Fährte-Führen“ des Lesers. Und es erspart langwierige Erklärungen von Motiven oder Umständen dieser dargestellten Personen oder Gruppen, weil diese und jene nun einmal so sind – sprich: es verwundert nicht, wenn afrikanische Einwanderer Drogen verkaufen und auch schon mal zu Waffe greifen, um ihren Absatzmarkt zu verteidigen. Andererseits können auf der Handlungsebene viele in der Gesellschaft schwelende Konflikte aufgegriffen werden, ohne dass selbe undurchsichtig oder gar zu komplex wird. Auch hier werden bestimmte Muster aktiviert, die es erlauben, ohne detailliertes Nachzeichnen der Geschichte eines Täters zahlreiche Ursachen für eine Tat einzubinden – die Ermordung eines vermögenden und skrupellosen Bankmanagers, der einfach kein Einsehen hatte und den nötigen Kredit für die Abzahlung des kleinen Einfamilienhauses verweigerte, erscheint so irgendwie nachvollziehbar.
Unsere Behauptung mag nicht jedem einleuchten, zur Nachvollziehbarkeit ein praktisches Beispiel. Der Roman „Mörder ohne Gesicht“ von Henning Mankell – ein Autor, der von vielen nicht mit dieser Tendenz in Verbindung gebracht wird- vereint durchweg die angesprochene Stereotypik. Ein altes, sehr sympathisches Ehepaar wird auf bestialische Weise ermordet. Kommissar Wallander glaubt von der sterbenden Frau noch das Wort Ausländer gehört zu haben und teilt dies vorsichtig seinen Kollegen im Kommissariat mit. Sofort beginnt die Fokussierung der Polizeiarbeit auf eine vermeintliche Randgruppe, was die Gelegenheit für einen erzählerischen Nebenstrang bietet. Die beginnende Ausländerhatz wird selbstverständlich von Wallander nicht geduldet, es wird sich um politische Korrektheit bemüht, da immer von „ausländischen Arbeitnehmern“ die Rede ist, auch wenn zum Zwecke der Aufklärung des Falls innerhalb des Kommissariats der Satz „Wir können uns keine politische Korrektheit mehr leisten.“ fällt. Ziemlich schnell wird offenbar, dass eine radikale Gruppe von Rechtsextremisten für die Übergriffe verantwortlich ist. Anders gesprochen: Schweden hat keine Probleme mit „ausländischen Arbeitnehmern“, nur eine andere Minderheit Radikaler am Rande der Gesellschaft tut solche grausamen Sachen. Die also angeblich drängenden Fragen der Zeit wie von Angst vor Überfremdung oder der Radikalisierung der Gewalt werden nicht in der Mitte der Gesellschaft diskutiert und gelöst, sondern an deren Peripherie verhandelt. Wie nicht anders zu erwarten, stammen die Täter doch aus einem ausländischen Milieu und den vorweggenommen Spekulationen seiner Kollegen, die ja schon vom Tatort her so geistreich wussten „Ich glaube dieser Knoten ist ausländisch“, wird schlussendlich Recht gegeben. Und wäre dies nicht Minderheit genug, so setzt Mankell noch einen drauf: das alte Ehepaar auf dem Lande wurde durch auf einem Jahrmarkt arbeitende Ausländer – also „Fahrendes Volk“ – ermordet, die es auf das Vermögen des Mannes abgesehen haben, der noch dazu ein Doppelleben führte. Das Vermögen machte er übrigens durch Fleischgeschäfte jenseits des Eisernen Vorhanges. Mehr Stereotypik geht wohl kaum! Wallender ist den drängenden Fragen seiner Zeit – sein an Demenz erkrankter Vater als Ausdruck einer alternden Gesellschaft – zwar sehr nahe, nimmt diese aber nur als gegebene Phänomene hin, ohne ein konstruktives Alternativkonzept entwerfen zu können. Krimi halt! Spannend, unterhaltsam, aber schlussendlich auch nur trivial, selbst wenn er skandinavisch ist!