Stuttgart 21 ist ein fürchterliches Thema. Breitgetreten und schwabbelig beschäftigte der im Sommer 2010 eskalierte Streit um den Neubau des Hauptbahnhofs monatelang Medien, Gerichte, Zivilgesellschaften. Die abschließende Nachlese freilich steht den Literaten zu. Klug und weit blickend tut dies die Stuttgarter Schriftstellerin Anna Katharina Hahn. „Am schwarzen Berg“ verscheucht den idiotisch austreibenden Themenbusch „Stuttgart 21“ in die Peripherie, wo er essentiell auf seine Wurzel zurückgestutzt wird: Der schlingernden Suche nach dem richtigen Leben.
Es ist noch früh am Morgen, als sich Emil Bubs Hände in das spröde Geländer im Stuttgarter Vorort Burghalde krallen, sich Verstörung in ihm ausbreitet, der Wunsch nach Whiskey vor dem Frühstück den Anfang Sechzigjährigen zu Boden sinken lässt. Peter, der Sohn der Nachbarn und gleichzeitig das Kind, das Emil und seine Frau Veronika nie hatten, kehrt in sein Elternhaus zurück, Hab und Gut in eine rostig-roten Fiat gepfercht.
„Er fühlte sich krumm und lächerlich, am Boden neben dem Blumenkübel. Seine Erinnerung war voll von Peterbildern, doch keins glich dem, was er eben gesehen hat.“
Bärtig und abgemagert, verschlossen und labil, eine gemarterte Seele in einem zerschundenen Körper. Rückblenden vor dem inneren Auge, Peter am Küchentisch bei den Hausaufgaben, die gemeinsamen Streifzüge durch Stuttgarter Antiquariate, das letzte Treffen in Peters Garten. Gemeinsam rezitierten sie „Die Elemente“ von Eduard Möhrike, mit dessen Leben und Werk Emil das „Peterle“ früh vertraut machte.
Noch aber blieb ihm eine Freude,
Nachdem er Land und Meer bewegt,
Wenn er bei Nacht auf oeder Heide
Die Sehnsucht seiner Seele pflegt.
Da haengen ungeheure Ketten
Aus finstrem Wolkenraum herab,
Dran er, als muessten sie ihn retten,
Sich schwingt zum Himmel auf und ab.
Zufällig waren dessen Eltern Hajo, der vielbeschäftigte Arzt mit eigener Praxis und Veronika, die in der Rolle der Hausfrau verblühte, vor rund dreißig Jahren neben die zurückgezogen lebenden Bubs gezogen. Man lebt fortan nachbarschaftlich nebeneinander, das verwilderte Grundstück von Emil und Veronika wird zu Peters Rückzugsort, hier findet er Trost vor den schulischen Erwartungen des Vaters und pubertären Stimmungsschwankungen. Für die kinderlos Gebliebenen wird der Nachbarsjunge zum Lebensmittelpunkt im sinnentleerten Alltag. Doch keine Sorge: Eifersüchteleien zwischen Erwachsenen um die Gunst eines Heranwachsenden stehen ebenso wenig im Fokus des Romans wie der Streit um einen neuen Bahnhof.
Anna Katharina Hahn geht es um die großen Fragen: Wie beständig ist die Liebe in der Zwickmühle aus eigener Sozialisation und gesellschaftlichen Veränderungen? Welche Abgründe tun sich im Niemandsland zwischen Liebenden auf, wie schnell verpufft vermeintliche Nähe?
Entgegen des väterlichen Wunschs wird Peter Logopäde und nimmt ganz bewusst „nur“ eine Halbtagsstelle an, der Wunsch seine Söhne Ivo und Jörn aufwachsen zu sehen ist stärker als der Karrieretrieb. An dieser Stelle schwappt der eingangs erwähnte Bahnhofskonflikt in die Handlung, Peter wird begeisterter Baumbesetzer und ein Streiter für den Erhalt des ursprünglichen Schlossgartens.
„Ich muß mich nicht damit abfinden, nur im kleinsten Kreis gegen den Strom zu schwimmen. Du weißt schon, man ist Vegetarier, Waldläufer, Konsum- und Schulverweigerer, aber im Grunde ein armes Würstchen. Ein alternativer Kasper ohne Einfluß, der Rad fährt und Ökowaschpulver benutzt.“
Schließlich verlässt ihn seine Frau Mia mit samt den Kindern. Diesen erzählt sie frei erfundene Geschichten über die angebliche Untreue des Papas. In Wahrheit ekelt sie sich vor seiner vermeintlichen Antriebslosigkeit, seinem mangelnden Ehrgeiz im Beruf, der materiellen Ungewissheit und seinem Wunsch nach antiautoritärer Erziehung der Kinder abseits staatlicher Schulen. Die Plötzlichkeit ihrer Flucht streckt Peter nieder und Hahn billigt ihm, der nach einer sinnstiftenden Art zu Lebens sucht, keine zweite Chance zu. Denn schnell ist klar, dass das aus vier Personen bestehende, familiäre Netz keineswegs in der Lage ist, den taumelnden Vierzigjährigen wirklich aufzufangen. Mutter Clara reklamiert die eigene Aufopferung für ihren Sohn, Vater Hajos emotionale Kapazität ertrank vor vielen Jahren in Arbeit und manifestiert sich heute in Behandlungsprotokollen und beruflichem Ehrgeiz bei der Medikamention des Verzweifelten. Beide verzehren sich in dem Wunsch, dass aus den Lebenstrümmern ihres Sohnes ein „normaleres“ Dasein erwachsen möge.
„Paßt auf, zwischen Mia und Peter ist das letzte Wort noch nicht gesprochen[…]. Wir könnten ihnen doch ein Haus kaufen oder eine Wohnung. Das hat Peter ja immer abgelehnt. Er wollte nie abhängig sein von uns.“
Tragischer als diese blinde Harmoniesucht der Eltern ist das Unvermögen der Bubs, Peter zu verstehen. Zwar ist ihr Blick nicht von materialistischen Wertvorstellungen oder bürgerlichen Trugbildern vernebelt, wohl aber vom Alkohol. Insbesondere Emil widerfährt eine detaillierte Abarbeitung seiner Unzulänglichkeiten, welche den verträumten Deutsch-und Geschichtslehrer zum trinkenden, geistig umnachteten Zuschauer eins Dramas werden lässt.
„Emil schwieg und wendete die Würste auf dem Rost.“
Zurück bleibt hier wir dort breiige Abstumpfung. Und zwischen den Zeilen tropft sie zäh, die scharfkantige Essenz: Wer den Ausbruch aus der Leistungsgesellschaftt, dem ökonomischen Hamsterrad wagt, steht schnell alleine da. Hajo und Clara stehen für das saturierte Bürgertum, die Konservierenden Besitzstandwahrer. Emil und Veronika haben sich mit dem Gesellschaftssystem zwar nie wirklich identifiziert, ihren frühen Fluchtweg aus innerer Emigration, intellektuellem Suff und zugewucherter Kleinbürgerlichkeit jedoch nie verlassen.
„Im Keller verstaubten die Schriften von Adorno, Habermas und Erich Fromm neben den Überlebenden der vorjährigen Apfelernte.“
Mia, Peters Frau, ist das hungrige, aus der ärmlichen Enge der Unterschicht ausbrechende Mädchen, voller Trotz und der Angst, später wie die Mutter dickwadig und mit aufgequollenen Wurstfingern die Klos reicher Frauen putzen zu müssen. Jeder der auftretenden erscheint als Gefangener seiner eigenen „Welt“, welche im Falle von Mia und irgendwie auch Peter deckungsgleich mit ihrer Herkunft ist.
Dass Hahn ihre Personen dennoch nicht in eine dem Schicksal ausgelieferte Verantwortungslosigkeit entlässt, erfreut. Ebenso die Sprache: Fein, aber fordernd. Leicht und vereinnahmend erzählt die Autorin große und kleine Geschichten, bugsiert detailverliebte Szeneriestimmungen neben große Erkenntnisse. Ei n klug komponiertes Buch. Aufschlussreich sind seine Erzählperspektiven, bildhaft und hell seine Schilderungen. Nur manchmal geraten die starken Stimmungsbilder in Gefahr den Leser zu überfluten und vom unmittelbaren Fortgang der Handlung abzulenken. Ähnlich verhält es sich mit Charaktereigenschaften und zwischenmenschlichen Begebenheiten nebst Beziehungen. So trägt beispielsweise das kurz angeschnittene, sexuelle Intermezzo zwischen Emil und Nachbarin Carla außer knittriger Verästelung der ansonsten dichten Rückblenden wenig Wichtiges zur Handlung bei.
Nach der Lektüre bleibt das Gefühl, berührt worden zu sein. Nicht nur an schönen Stellen, nicht auf sanfte Art und Weise. Eher hinterrücks und flau. Doch wie beruhigt könnten wir in die Zukunft blicken, wenn nur gewiss wäre, dass „Am schwarzen Berg“ eines der Bücher sein wird, welches im Rückblick auf die Jetztzeit bleibt. Wir werden es sehen. Auch „Am schwarzen Berg“ stirbt die Hoffnung zuletzt. Doch sie stirbt.
Und auch die Elemente moegen,
Die gottversoehnten, jede Kraft
In Frieden auf und nieder regen
Die nimmermehr Entsetzen schafft;
Dann, wie aus Nacht und Duft gewoben,
Vergeht dein Leben unter dir,
Mit lichtem Blick steigst du nach oben,
Denn in der Klarheit wandeln wir.
Anna Katharina Hahn – Am schwarzen Berg
Suhrkamp 2012
236 Seiten
ISBN-13: 978-3518422823
Euro 19,95 (gebundene Ausgabe)
Euro 16,99 (e-Book)
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