Erik Münnich: Beunruhigt Sie die gegenwärtige politische Situation und wie verhalten Sie sich als Journalist dazu?

Michael Kraske: Ja, die Radikalisierung und Brutalisierung, die im Internet und auf der Straße immer weiter um sich greift, beunruhigt mich. Es ist verstörend, wie wenig es braucht, um die dünne Schicht von Menschlichkeit, Mitgefühl und demokratischer Gesinnung bröckeln zu lassen. Aufgabe von Journalisten und Autoren ist es, die Dinge beim Namen zu nennen.

Ein Bürger, der sich rassistisch äußert, ist kein besorgter Bürger, sondern ein Rassist.

Aus Hasssprache werden Gewalttaten. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, wenn Menschen wieder zu Sündenböcken gemacht werden.

Erik Münnich: Sie haben sich in der Vergangenheit sehr ausführlich mit dem Themen Rechtsradikalismus und Neue Rechte beschäftigt. Gibt es dafür eine bestimmte Ursache und was interessiert Sie an diesem Thema?

Michael Kraske: Bei uns zuhause liefen als Kind häufig Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg. Mein Opa war in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Schon früh habe ich erfahren, was in Ausschwitz passiert ist; dass dort jüdische Menschen auf bestialische Weise ermordet worden sind. Das hat mich erschüttert und geprägt. Später, als Schüler, hat mich beschäftigt, welche Ideologie zu diesen Verbrechen geführt hat. Im Politikstudium hab ich mich damit beschäftigt, wie die radikale Rechte ihre Ideologie modernisiert hat. Wie die belastete Kategorie „Rasse“ durch den unbelasteten Begriff der Kultur ersetzt wurde, die es zu bewahren gelte. Das klingt erst mal harmlos. Die Konsequenz bleibt aber gleich: Es geht darum, ethnische, biologische oder kulturelle Reinheit herzustellen. Am Ende steht wie gehabt: Ausländer raus. Derzeit erleben wir eine schaurige Renaissance dieser Sehnsucht nach ethnischer Reinheit.

Erik Münnich: Haben Sie bisher Einschränkungen durch Ihre Arbeit erfahren, wie es verschiedenen anderen Journalisten widerfahren ist?

Michael Kraske: Man macht sich keine Freunde damit, auf Missstände hinzuweisen oder über rechte Straftaten zu berichten. Bürgermeister und Politiker, die das Problem verharmlosen, fühlen sich ungerecht behandelt und zeigen mit dem Finger auf den Überbringer der schlechten Nachricht. Das ist so, das ist mein Job. Er ist härter geworden, seit Journalisten pauschal als „Lügenpresse“ verunglimpft werden. Umso wichtiger, einfach weiterzumachen. Versuchen, wahrhaftig zu bleiben und auch dann eine eindeutige Haltung zu zeigen, wenn man dafür angefeindet wird.

Erik Münnich: Was hat zu der Entscheidung geführt, dieses Thema – neben vielen weiteren Themen – literarisch zu verarbeiten?

Michael Kraske: Die Gewöhnung an alltägliche rechte Gewalt und die Unempfindlichkeit gegenüber dem Leid von Opfern und Außenseitern ist eine über Jahre nahezu ignorierte deutsche Realität. Diese ganz und gar unerträglichen Zustände sind so normal geworden, dass sie kaum jemanden interessiert haben.

Dieses ganz banale und alltägliche Grauen – für mich ist das ein großartiger literarischer Stoff.

Ich wundere mich ehrlich gesagt, warum das bislang so wenig auserzählt ist.

Erik Münnich: Warum haben Sie sich für die Form des Romans entschieden? Welche Vorzüge sehen Sie – vor allem im Vergleich zu ihren bisherigen (journalistischen) Arbeiten – in dieser Form? Wo sind Sie vielleicht auch an Ihre Grenzen gestoßen?

Michael Kraske: Mit dem Roman kann ich der Wirklichkeit und den Wahrheiten, die ich erkenne, näherkommen, indem ich meine Figuren diesem Deutschland aussetze. Ich kann literarisch vielschichtiger und komplexer erzählen als in einer Reportage. Leo und Andrea, mein Auswanderer-Paar, wird durch die Gewalt der „Heimatwächter“ zu einer Haltung genötigt. Zugleich werden sie auf ihre eigenen Verborgenheiten, Halbheiten und faulen Kompromisse gestoßen. Sie pendeln zwischen Mut, Trotz, Verzweiflung und Verzagtheit, zwischen Verbundenheit, Egoismus und Misstrauen. „Vorhofflimmern“ ist kein Pamphlet und auch kein Essay. Es ist die literarische Geschichte über ein Paar und eine Familie und was Gewalt und Hass aus ihnen machen, wie sie davon deformiert und in ihrer Existenz bedroht werden. Zugleich ist es eine radikale Liebesgeschichte. Was macht dieses Land aus uns? Was machen wir mit uns? Davon will ich erzählen.

Erik Münnich: Welchen Rechercheaufwand haben Sie für das Buch betrieben? Woher stammen die drei wesentlichen Stränge – die Paarbeziehung, die nationalistisch orientierten Übergriffe bis hin zu Mord sowie die reflexartigen Reaktionen der Einwohner – und wo haben Sie die Typen gefunden, die Sie verarbeiten?

Michael Kraske: Als Reporter bin ich ja immer auch Geschichtenerzähler: Ich erzähle Geschichten von Menschen. Egal, ob es um rechte Gewalt, Borderline, Depression, Angststörungen oder Untreue geht – mich hat immer interessiert, was das mit den Menschen macht. Wie sie reagieren, wenn Gewissheiten und Sicherheiten wegfallen. Natürlich habe ich Bürgermeister kennengelernt, die rechte Gewalt aus Sorge um den guten Ruf ihrer Stadt verleugnen. Ich weiß, was Paare einander antun können und was sie aushalten. Das ist ein ganz eigenes Universum. Unendlicher Romanstoff. Ich habe aus mir bekannten Mustern und Charakterzügen literarische Figuren geformt, die beim Schreiben zu leben begannen. Ich musste am Ende nicht mehr überlegen, ob Andrea ihrem Leo eine SMS verheimlicht. Ich wusste, wann und wie die Bewohner der Kleinstadt bei Gewalt wegsehen und das rechtfertigen. Großartig, wenn die Figuren beim Schreiben in diese Grauzonen zwischen gut und böse, mutig und feige rutschen. Dann bin ich als Autor da, wo ich hin will.

Erik Münnich: Warum gerade eine sächsische Kleinstadt? Welche deutlich realen Bezüge gibt es darüber hinaus in „Vorhofflimmern“? Haben Sie sich oder Ihre nähere Umgebung verarbeitet?

Michael Kraske: In der Kleinstadt lebt es sich wie unter einer Glocke. Ja, man ist über Internet und TV ganz nah dran an weltweiten Krisen und Kriegen, was vor allem Ängste befeuert. Gleichzeitig lebt es sich in einer Kleinstadt nach ganz eigenen Regeln. Die Sehnsucht nach Gleichheit und Konformität ist groß. Da reicht eine bunte Haarsträhne, um zum Hassobjekt zu werden. Ich habe bei Recherchen in Sachsen viele Städte kennengelernt, wo Gewaltopfer wie Täter behandelt wurden. Wo Nachbarn dachten: Selbst schuld, wenn die sich komisch anziehen und die Rechten provozieren. Wo man sich daran gewöhnt hat, dass junge Menschen bedroht, gejagt und verletzt werden. Liebbrehna ist ein fiktiver Ort, den es so ähnlich aber dutzendfach gibt.

Erik Münnich: Die hin- und herpendelnde Paarbeziehung, die Sie beschreiben, hat mir an manchen Stellen einen Kloß in den Hals getrieben – vieles von dem war sehr nah an mir dran. Was hat Sie an diesem Thema und seiner Darstellung interessiert?

Michael Kraske: Nirgendwo kommen sich Menschen näher als in Paarbeziehungen. Liebende teilen Geheimnisse und Intimität, Sehnsüchte und Pläne, aber sie können sich auch fremd werden, in ganz anderen Welten leben und grausam verletzen. Man begibt sich auf einen gemeinsamen Weg, aber auf diesem Weg kann man sich unmerklich verlieren, isolieren oder sich in einer Art Halbglück einrichten. Dann breiten sich Heimlichkeiten, Lügen und Alleingänge aus. Es ist nicht immer leicht zu erkennen, wann ein Kompromiss faul wird. Mich interessiert diese real existierende Liebe. Was tun sich Liebende an, was muten sie sich zu? Wie offen oder verheimlichend ist man dem anderen gegenüber, zeigt man ihm oder ihr auch seine hässlichen Schattenseiten? Eine Liebesbeziehung ist eine große existentialistische Erfahrung. Jede ist anders. In jeder geht es für zwei Menschen um alles oder nichts. Liebe ist die ultimative Sehnsucht und der Ort schmerzhaften Scheiterns. Ein großes Lebensthema, auch für mich.

Erik Münnich: Was hat Sie bewogen, dem Paar/der Familie am Ende doch ein gutes Ende zu bereiten?

Ich lasse das Paar und die Familie durch die Hölle gehen. Die bereiten sie sich zum Teil auch selbst. Sie werden aber vor allem durch die Gewalt der „Heimatwächter“ auf ihre Lebenslügen gestoßen. Und dann kommt es zu einem perversen Mechanismus. Erst die Katastrophe mit Leid, Kummer und gegenseitigen Verletzungen ermöglicht den Neuanfang. Erst als es nichts mehr zu verlieren gibt, weil alle Sicherheiten gefallen sind, trauen sie sich, auf radikale, fast schon brutale Weise, offen miteinander zu sein. Sie hören auf, sich schonen zu wollen und ein geschöntes Bild von sich zu zeigen. Und ihr Sohn Milan wird in dem durchlebten Schmerz erwachsen. Wie ein Kind in einem Kriegsgebiet, wie es im Roman heißt. Das ist alles andere als ein Happy-End.

Es ist ein durch und durch realistisches Ende mit einem völlig illusionslosen Silberstreif.

Erik Münnich: Ein anderes Thema – Rechtsradikalismus und im weitesten Sinne auch „Hass“ auf alles Fremde – überschattet den Neuanfang der Familie. Sind die Positionen, die Sie in Ihrem Roman darstellen (Aufbegehren gegen die Umstände, Resignation, Akzeptanz, Verleumdung usw.), die typischen Reaktionen, mit denen wir diesem Thema begegnen?

Michael Kraske: Wer wie Andrea, Leo und Milan bedroht und verfolgt wird, steht mit dem Rücken zur Wand. Viele machen die Erfahrung, dass sie dann völlig auf sich allein gestellt sind. Keine Polizei, kein Staatsanwalt, die einem beistehen. Wenn man so auf sich zurück geworfen wird, springen Reflexe an. Keiner kann vorhersagen, wie er auf eine solche Bedrohung reagieren würde. Es ist zutiefst menschlich, dass sich bei Betroffenen Mut, Feigheit, Vorsicht, Trotz, Angst, Anpassung und Aufbegehren abwechseln. Ob man über sich hinaus wächst oder resigniert, hängt von Zufällen und manchmal auch von impulsiven Entscheidungen ab. „Vorhofflimmern“ erzählt keine Heldengeschichte. Der Roman zeigt, was passiert, wenn sich eine Gesellschaft daran gewöhnt, dass Außenseiter zu Sündenböcken gemacht werden. Wir dürfen uns nicht an das Unerträgliche gewöhnen – weder in der Liebe noch im Zusammenleben mit anderen.

Erik Münnich: Man kann fast sagen, dass sich die politischen Ereignisse – die Ihrem Roman, wie ich finde, einen seltsam realen Rahmen geben – wöchentlich zuspitzen, Regierung und Zivilgesellschaft hilfloser und immer mehr Wähler den nationalistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen/Parteien zugetragen werden. Wie verorten Sie sich hier als Autor und wie sehen Sie in diesem Zusammenhang Ihre Rolle?

Michael Kraske: Wir erleben gerade jeden Tag schaurige Déjà-vus. Hassparolen gegen schutzbedürftige Menschen. Jubel, wenn ein Asylheim angezündet wird. Ein Polizist, der einen verängstigten Jungen gewaltsam aus einem Bus und unter dem Jubel des Mobs in ein Heim zerrt. Erwachsene Männer; die in der S-Bahn auf ein Kind urinieren oder einen elfjährigen syrischen Jungen zusammenschlagen. Wähler, die bereit sind, völkischen Rassisten ihre Stimme zu geben. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Dieser Sturm an Ungeheuerlichkeiten ist laut, bedrohlich, abstoßend.

Als Autor bleibt einem nur, beharrlich mit humanistischer Stimme zu widersprechen.

Und dafür zu werben, dass auch andere ihre Stimme erheben. Aus Worten werden Taten. Aus Schweigen aber auch. Als Autor kann ich mich derzeit nicht ins Schneckenhaus der schönen Kunst zurückziehen.

Erik Münnich: Sie haben gesagt, dieses Buch wird kein einmaliger Ausflug in die Literatur sein. Warum sind Sie sich da so sicher und was hat dazu geführt? Was haben Sie gerade in Planung, woran arbeiten Sie vielleicht schon und vor allem: warum?

Michael Kraske: Das literarische Schreiben ist eine Sehnsucht und eine Stimme, die in mir ist. Ich habe immer wieder mal experimentiert und meine literarische Stimme geformt, zum Beispiel mit Kurzgeschichten. Mit „Vorhofflimmern“ habe ich den Ton und die Sprache getroffen, die mir vorschwebten. Der Schreibprozess war aufwühlend. Im Kopf arbeiten permanent Formulierungen, Ergänzungen, Szenen, Übergänge, Satzfetzen. Aber es ist überwältigend, wenn sich die blinden Flecken füllen. Wenn die Figuren zu leben beginnen. Ich habe darüber hinaus einen radikal erzählten Stoff, der so gut wie fertig ist. Eine Geschichte über Versuchung und Verführbarkeit. Und ich entwickele gerade den Plot für eine düstere Zukunftsvision, in der ein charismatischer Heilsbringer in Deutschland die Macht übernommen hat. Mal sehen, wo das hin führt.

Über den Autor

Michael Kraske wurde 1972 in Iserlohn geboren und zog bald nach dem Mauerfall nach Leipzig, wo er als Journalist und Buchautor lebt. Er hat Politikwissenschaft und Neuere Geschichte studiert und absolvierte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg.
Seitdem schreibt er für Magazine und Zeitungen wie Stern, Die Zeit, Cicero oder Merian. Als Essayist mischt er sich in die große Politik ein, als Reporter beschreibt er kleine und größere menschliche Dramen. In seinen Geschichten geht es um Gewalt, Liebe, Einsamkeit, Sterben und Angst. Bei Recherchen trifft er Revolutionäre, Gewaltopfer, Prostituierte, Ausgebrannte, Lebensretter und Süchtige.
Für seine journalistische Arbeit wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der Autor veröffentlichte mehrere Sachbücher wie „Und morgen das ganze Land“ und die Autobiographie „Ich bin dann mal drüben“. Im Frühjahr 2016 erscheint im freiraum-verlag das literarische Debüt von Michael Kraske: der Roman „Vorhofflimmern“. Das deutsch-deutsche Auswanderer-Drama ist für ihn kein einmaliger Ausflug in die Belletristik. Er schreibt weiter.

Weitere Informationen finden zum Autor und seinem Buch finden sie auf der Homepage des freiraum-verlags.

Das Interview führte Erik Münnich