Unlängst stieß ich auf die Geschichte eines weithin unbekannten Autors namens Matthäus. Im Mittelpunkt dieser Kurzgeschichte steht ein Familiendrama, welches in seiner formalen Ausgestaltung sich ziemlich schlicht ausnimmt, jedoch bedeutungsschwer aufgeladen ist und (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) an jüdisch-hebräischer Mythologie anknüpft.
Der langatmige Prolog dient nicht dem eigentlichen Geschehen, sondern bettet dieses nur in einer schmucklosen Genealogie ein. Es wird erzählt, dass der Familienvater Josef der 26. (!!!) Nachkomme des Königs David sei, aber nach der enormen zeitlichen Distanz weder eine Königswürde noch sonst wie geartete weltlich-materielle Güter im Übermaß besitzt. An dieser Stelle würde man einen Exkurs vermuten, inwieweit der König David im Zusammenhang mit jenem Josef steht; diese Vermutung wird aber nicht eingelöst. Lediglich die Aufzählung der einzelnen Namen in einem Listencharakter bestimmt das komplette erste Kapitel und wird dem ungeduldigen Leser zum Überspringen – oder wenigsten zum rein kursorischen Lesen – empfohlen, da man keinen weiteren Aufschluss über den weiteren Verlauf oder eine tief gehende psychologische Erläuterung über das folgende Konfliktpotential gewinnt.
Die Geschichte bekommt aber dann schnell eine Dynamik, weil der zunächst vorgestellte Protagonist Josef sich mit zwei Konfliktfeldern konfrontiert sieht. Zum einen ist auf der Makroebene die äußere staatliche Bedrohung. Der Autor setzt die Geschichte in die Zeit des Königs Herodes und dessen Volkszählung an. So ist auch Josef gezwungen mit seiner Verlobten Maria daran teilzunehmen und in seine Heimatstadt nach Bethlehem zur Registrierung zu reisen. Hierbei könnte man an eine gewisse Reminiszenz des Autors an die Volkszählung in der Bundesrepublik in den 80er Jahren mit all ihren Protesten denken und eine eventuelle Vorausschau an die kommende Zählung vermuten, die ziemlich unkritisch angenommen wird. Aber vielleicht geht diese Vermutung bei einem griechisch schreibenden Autor auch zu weit. Zum anderen erfährt der Leser auf der Mikroebene, dass sich innerhalb dieser von außen bedrohten kleinen Familie ebenfalls Erosionsprozesse ankündigen, indem die Schwangerschaft seiner Verlobten Maria ans Tageslicht kommt. Josef beschließt heimlich seine Verlobte zu verlassen, weil er zu Recht jede Vaterschaft abstreitet. Jedoch erscheint ihm im Traum ein transzendentes Wesen namens ‚Engel’, welches ihn davon abrät, indem er verkündet: „Siehe eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Immanuel heißen.“ Der jüdisch-hebräisch geschulte Leser wird an diesem Punkt an das 23. Kapitel des Jeremia-Buches mit seiner messianischen Verheißung und dem Immanuels-Zeichen aus dem 7. Kapitel des Jesaja-Buches denken. Und genau in diese Kerbe schlägt der Autor auch, wenn er dem neu geborenen Kind, welches die Eltern dann Jesus nennen, eine ungeahnt tragende Rolle zuerkennt.
Hier vollzieht sich ein eindeutiger Paradigmenwechsel, welcher literarisch gerade in der Ablösung Josefs als Protagonisten durch Jesus evident wird. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird dieser Handlungsträger immer weiter zugespitzt. Der innere mikrokosmische Konflikt scheint gelöst, da eröffnet sich am Horizont eine neue Bedrohung durch den Kindermord des Königs Herodes und der Flucht der jungen Familie nach Ägypten.
Die hektische Geschichte wird durch kleine Ruhepunkte, z.B. der Besuch der drei Weisen aus dem Morgenland, unterbrochen. Nichts desto trotz kann die gut konzipierte Geschichte mit ihren mythischen Hintergründen nicht das sprachliche Manko des Autors, der vorzugsweise Parataxen benutzt, wettmachen. Gerade die vielen Wiederholungen legen einen Ausdrucksmangel nahe und machen die Lektüre holprig. Die meisten Leser werden sich von dem schon genannten ersten Kapitel abschrecken lassen und gar nicht gewillt sein, die Geschichte weiter nachzuvollziehen.
Zudem kann der Autor einen gewissen Plagiatsvorwurf nicht von sich weisen, da ein ebenfalls griechisch schreibender Autor namens Lukas die Geschichte auf ähnliche Weise erzählt, auch wenn er andere Akzente setzt. Wer aber den Mut besitzt und dieses Jahr Weihnachten mal etwas anderes lesen bzw. hören möchte als die Geschichte der drei Geister von Dickens, sollte sich auch an diesen stockigen Text herantrauen, der viel Spielraum zum Weiterdenken lässt.