NKVD MandelstamWir freuen uns, dass wir mit Michael Gratz einen der Lyrikexperten Deutschlands als Autor gewinnen konnten. In seinem Beitrag geht es um den Dichter Ossip Mandelstam und darum, wie Lyrik einem Leser den Blick auf die Welt verändern kann.

 

Ossip Mandelstam habe ich zuerst bei der Nationalen Volksarmee gelesen. Ich war Soldat im Grundwehrdienst, die Wehrpflicht dauerte 18 Monate – ein langes Stück Lebenszeit für einen jungen Menschen. Man war gefangen, es gab sechs Tage Urlaub pro Halbjahr und höchstens einmal pro Woche konnte man Ausgang bekommen – das war kein Recht, sondern wurde gewährt. Jeweils nach Dienst bis Mitternacht, das war am Mittwoch ab 18, Sonnabend ab 13 Uhr oder Sonntag nach dem Frühstück. Auch Frühstück war Dienst, man mußte mitmarschieren, der Spieß befahl ein Lied und wir sangen: „Rot ist meine Waffenfarbe“ oder sowas. Ich bekam nicht oft Ausgang am Sonntag. Einmal wollte ich mich vorm Frühstück drücken und sagte dem Unteroffizier, ich hätte Ausgang und wollte mich vorbereiten. Er ließ mich gewähren, aber ich bekam später 14 Tage Ausgangssperre „wegen Belügens von Vorgesetzten“.
Den langen Sonntag zwischen den Mahlzeiten hatte man also Lesezeit. Ich war schon leidenschaftlicher Leser von Gedichten. Seit 1967 erschien das monatliche Poesiealbum für 90 Pfennig. Heft 2: Wladimir Majakowski. Wahrscheinlich war etwas von ihm in der Schule vorgekommen, ich erinnere mich nicht, aber an Hugo Hupperts Verdeutschungen blieben Erinnerungen. „Zur Frage des Frühlings“ hieß eins der Gedichte, es hatte Metaphern wie

„Ja, heut und morgen, | beinah schon ewig / taumelt die Stube, | von Sonne besoffen.“
Oder:

„Das Tageslicht | dreht | seinen Flammenwerfer.“

[die geraden Striche im Text markieren Majakowskis berühmte Treppen im Vers].

Ebenfalls 1967 startete der Verlag Volk und Welt seine „Weiße Lyrikreihe“ mit einem Band von Anna Achmatowa. 1967 war das Jahr, in dem ich die russische Lyrik für mich entdeckte.
Die Armee hatte natürlich auch eine Bibliothek. Dort fand ich den Band „Oktober-Land. Russische Lyrik der Revolution“, der ebenfalls 1967 erschienen war. Der eingeklebte Ausleihzettel verriet mir, daß ich der einzige Ausleiher war. Vorn das Faksimile aus einer Satirezeitschrift, „Solowej. Zeitschrift für Proletarische Satire“ vom Heiligabend 1917 mit einem Zweizeiler von Majakowski auf dem Titelblatt, in Hugo Hupperts Übersetzung:

„Friß Ananas, Bürger, | und Haselhuhn. / Mußt bald | deinen letzten Seufzer tun.“

Das erste Gedicht des Bandes war von Welimir Chlebnikow, es begann so:

„Die Freiheit kommt strahlend und nackt,  streut Blumen aufs Herz, immerzu. / Wir schreiten im rhythmischen Takt | und stehn mit den Sternen auf du.“
(Deutsch von Wilhelm Tkaczyk). Die Revolution gefiel mir.

Auch Anna Achmatowa fand ich in dem Band wieder und Gedichte von Andrej Bely, Alexander Blok, Sergej Jessenin, Boris Pasternak und vielen anderen und eben auch eins von Ossip Mandelstam, dessen erste Strophe in der Fassung Adolf Endlers so geht:

Ruhm der Freiheit sie ist über uns gekommen
Eine Sonnenfinsternis verworrner Zwirn
Wie in trüber Nacht durch siedendes Meer geschwommen
Wald von Tierfangnetzen wo wir uns verirrn
Dumpfes Jahr wir tollen Krauler dumpf beklommen
Denn das Volk das Licht wird richten die sich irrn

Ach, er hatte ja recht. Nicht das Volk, aber Stalins Büttel richteten den Dichter, der sich eben geirrt hatte. Später sagte Chrustschow, Stalin habe sich geirrt, aber es war zu spät, Millionen Opfer des Irrtums lebten nicht mehr.
Ossip Mandelstam starb 1938 in einem Lager bei Wladiwostok. Über die Umstände und sogar das Datum gab es widersprüchliche Berichte. 1940,  1941, 1943 kursierten als Todesdatum in amtlichen Schreiben, Lexika und wirren Zeugenberichten. Heute wissen wir, daß er schon am 27. Dezember 1938 im Lager starb.

1956, im Tauwetter Nikita Chrustschows, wurde er teilrehabilitiert. Ein Gedichtband wurde angekündigt, erschien aber nie. Erst 1987 in der Zeit der Perestroika wurde er vollständig von den Vorwürfen und Anklagen freigesprochen. Seine Gedichte erschienen im Ausland. 1959 besorgte der Dichter Paul Celan eine erste Ausgabe auf Deutsch. In der DDR erschien 1975 ein Reclamband mit Gedichten, der bis 1987 vier Auflagen erfuhr. Viele Exemplare der zweisprachigen Ausgabe landeten in der Sowjetunion – Rainer Kirsch berichtet, daß dort ein Bändchen Mandelstam lange Zeit ein Türöffner war. Bis 1989 wurden von dem Band sagenhafte 130000 Exemplare verkauft. 1984 erschien das „Gespräch über Dante“ ebenfalls zweisprachig in der schwarzen Gustav Kiepenheuer Bücherei, legendär bei Lesern moderner Lyrik im Osten und noch heute ein Geheimtipp. 1985 erschien ein weiterer Lyrikband in der Weißen Reihe des Verlages Volk und Welt.
Anders in seiner Heimat. Erst gegen Ende der Sowjetunion konnte er auch dort wieder erscheinen. In den Perestroikajahren las ich die Zeitschrift Ogonjok, die als reformorientiert galt. Neben politischen Themen immer auch mit Gedichten. Gedichte des Akmeisten Gumiljow erschienen da – Gumiljow war 1921 als Konterevolutionär erschossen worden. Und 1987 Gedichte von Ossip Mandelstam – Gedichte aus der Zeit der Verbannung zwischen der ersten und zweiten Verhaftung.
Hier ein Gedicht in der Übersetzung von Rainer Kirsch:

Wie, mein Herr, heißt die Straße dort?
Ossip-Mandelstam-Straße.
Gottseibeiuns, was für ein Wort!
Es verdreht sich im Mund sofort:
Krumm klingt das, statt gerade.

Nie war an ihm eine Linie klar.
Wie er, Herr, nie eine Lilie war.
Darum heißt dort die Straße auch –
Besser: diese Kuhle im Schlamm –
Immer noch (Namen sind selten Rauch)
Nach ebendem Mandelstam.

Und auf den Weg ein Rat an Mandelstamleser: „Der Leser nehme die Texte so wörtlich wie möglich.“ Sagt Rainer Kirsch und hat mehr Recht als alle Experten und Lehrer, wenn sie was anderes sagen.