Ist das, was Du in Deiner Radiosendung machst, politisch? Die Frage war durchaus als Provokation gemeint. Der Fragesteller wollte mich in gewisser Weise aufs Glatteis führen. Doch zeigt sie auch eine große Unkenntnis über die gesellschaftliche und politische Relevanz des Blues nicht nur in der Vergangenheit. Denn auch wenn Blues in erster Linie Unterhaltungsmusik war und ist – politische Aussagen und politisches Engagement fanden und finden sich in diesen Liedern sehr häufig.
Ist es politisch, wenn ein Lied mit der Zeile "Woke up this morning" beginnt? Das ist eine bewußt provokatorische Frage. Denn es ist ja klar, dass die Antwort nur davon abhängen kann, wie die Fortsetzung der Strophe aussieht. Aber selbst wenn ein Sänger klagt, dass ihm über Nacht die Frau abgehauen ist, kann diese Klage eine wirklich politische Aussage sein. Gerade in der Geschichte des Blues wird es immer wieder deutlich, wie stark die Sänger das gesellschaftliche und politische Umfeld in ihren Songs reflektieren und kritisieren. Und wenn einem Mann die Frau abhaut, weil dieser nicht in der Lage ist, einen ausreichend bezahlten Job zu finden, um seine Familie zu ernähren, dann ist das eine politische Frage.Immer wieder haben Musiker – besonders deutlich etwa in den 50er Jahren Big Bill Broonzy oder Sonny Terry & Brownie McGhee oder wenige Jahre später J.B. Lenoir in ihren Stücken die politischen Fragen noch weiter zugespitzt. "Black, Brown & White" ist einer der direktesten Songs gegen die Rassendiskriminierung in den USA damals. Und es ist kein wirklich großes Wunder, dass die meisten Aufnahmen dieses Liedes in europäischen Tonstudios gemacht wurden. Wer sich so äußert, ist auch nach dem Ende der McCarthy-Ära nicht unbedingt willkommen bei den sich eher unpolitisch gebenden Plattenfirmen.
Doch wie Martin Luther King (in seinem Vorwort zu Theo Lehmanns Buch "Blues and trouble" aus dem Jahre 1965) so richtig schreibt: "Die Blues erzählen die Geschichten von den Schwierigkeiten des Lebens, und wenn man sich das vergegenwärtigt, wird man erkennen: Sie greifen die härtesten Realitäten des Lebens auf und verwandeln sie in Musik, um mit etwas neuer Hoffnung oder einem Triumphgefühl daraus hervorzugehen. … Wenn das Leben selbst weder Halt noch Sinn bietet, dann schafft sich der Musiker beides aus den Klängen dieser Welt, die auch durch sein Instrument strömen." (Lehmann, Blues and trouble, Berlin 1966, S. 5)
Und dies war und ist neben der persönlichen Klage über erlittenes Leid oder Unrecht eben immer auch die direkte Kritik an den Regierenden und ihren Entscheidungen. So gibt es zur Zeit des "New Deal" von Roosevelt eben Lieder, die die Möglichkeiten, bei den Beschäftigungsprogrammen bezahlte Arbeit zu finden, loben. Oder es gibt Klagen darüber, wie erniedrigend es ist, von den kostenlosen Suppenküchen abhängig zu sein. Es gibt Blues über Hitler und den Agriff auf Pearl Harbor.
Künstler wie J.B. Lenoir heben diese allgemeinen Lieder in Songs wie dem Alabama Blues auf eine wesentlich schärfere kritische Ebene: Er klagt offen das Unrecht an, dass Menschen seiner Hautfarbe im Süden der USA noch immer angetan wird. Hier ist der Blues eine Form des politischen Protests, der vergleichbar ist mit den auf dem Gospel fußenden Liedern der Bürgerrechtsbewegung, wie sie etwa von Mavis Staples und anderen in den Auseinandersetzungen um die Rassengleichheit gesungen wurden. Ähnlich scharf und allgemeingültig hatte vor ihm dies eigentlich nur Billie Holiday mit "Strange Fruit" auf den Punkt gebracht.
In der Gegenwart ist es etwa ein Sänger wie Reverend Peyton, der mit seinen Liedern nicht nur die harte Lage der Farmer in den USA sondern auch die Finanzpolitik und das Gebaren der Regierung allgemein anprangert. Mit seinem rauhen Country-Blues hat er daher nicht nur in den Kreisen der normalen Bluesfans sondern quer durch die verschiedensten Ecken Fans und Anhänger gefunden.
Auch das Verhältnis der Geschlechter ist immer ein Thema des Blues gewesen. Und oft ist es halt nicht einfach das Liebesleid, sondern das Scheitern von Beziehungen auf Grund gesellschaftlicher oder familiärer Vorstellungen, das diese Lieder ausdrücken. Wenn B.B. King etwa fordert, wenn er schon die Rechnungen bezahlt, dann wolle er auch der Boss in der Familie sein ("Paying the cost to be the boss"), dann entspricht das so ziemlich dem Macho-Klischee, was man dem Bluesman gerne pauschal unterstellt. Doch es ist eigentlich die Verunsicherung des Mannes angesichts starker Frauen, die hier zum Ausdruck kommt.
Anders als etwa in weißen Familien waren es gerade in der Zeit bis in die 50er Jahre und noch darüber hinaus die farbigen Frauen, die einen großen Teil des Unterhalts ihrer Familien verdienten. Auch wenn es oft gesellschaftlich nicht angesehene Dienstmädchenstellen waren – allein die Tatsache, dass sie als Berufstätige oft mehr leisteten als ihre männlichen Partner, führte hier zu einem größeren Selbstbewusstsein.
Auch die Bluessängerinnen hatten (gerade in der "klassischen" Zeit des Blues in den 20er Jahren) ihren männlichen Kollegen einen größeren Erfolg vorzuweisen. Ma Rainey und vor allem Bessie Smith zählten zu den auch wirtschaftlich erfolgreichsten Interpreten dieser vom Publikum noch als neu betrachteten Musik. Erst als sich die Plattenfirmen von den Großstädten hinaus zu Aufnahmen auch in den ländlichen Regionen bewegten, verschob sich dieses Bild. Denn gerade dort waren es die Männer, die als Musiker in den Kneipen und Straßen den Ton angaben.
Auch heute noch sind Fragen des Geschlechterverhältnisses ein wichtiges Bluesthema. Das kann von offensiven Bekenntnissen zur weiblichen Homosexualität bis hin zu fast feministischen Kampfansagen gegen die oft nur schwanzgesteuerten Männer (etwa in "Chasin Tail" von Anni Piper) gehen.