Wie kann man heute vom 1. Weltkrieg erzählen, wo die Zeitzeugen gestorben sind? Welche Geschichten finden Autoren, wenn sie Inspiration suchen in den Zeitungen der damaligen Zeit? Die Literaturhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben 23 Autorinnen und Autoren aus ganz Europa eingeladen, sich darauf einzulassen. Das Ergebnis der Aktion ist als Band 254 der Literaturzeitschrift “die horen” erschienen.
Mit dieser Welt muss aufgeräumt werden. Autoren blicken auf die Städte Europas. Die Horen. Band 254
Selbst der Pazifist Erich Mühsam konnte sich der Euphorie nicht völlig entziehen. In seinen Tagebüchern im August 1914 freut er sich über die „seelische Einheit“. Anderswo war die patriotische Raserei noch wilder: Kneipen wurden demoliert, wenn die Kapelle nicht sofort auf Wunsch patriotische Lieder spielte. Automobile mit vermeintlichen Spionen wurden überall angehalten und ausgeraubt. Nicht nur in Deutschland herrschte solch ein Zustand der massenhaften Euphorie. Und es waren überall nur wenige, die schon von Anfang an skeptischer waren.
Es gibt nichts überholteres als die Nachricht von gestern lautet eine Journalistenweisheit. Die Zeitung von gestern taugt bestenfalls noch dazu, Fisch darin einzuwickeln eine andere. Doch je größer der zeitliche Abstand, desto interessanter wird es, was lokale Tageszeitungen über historische Ereignisse und sonstige Geschehnisse gedruckt haben. In der Zusammenschau der verschiedensten Meldungen und Anzeigen kann man ein Bild der Geschichte zeigen, dass wesentlich detaillierter ist als die beste Geschichtsschreibung. Vor allem wird dieses Bild frei sein von den nachträglichen Deutungen der Ereignisse durch die Wissenschaft.
Dass das Netzwerk der Literaturhäuser Autoren gerade gebeten hat, in Bezug auf ihre Heimatstadt zu recherchieren, macht den besonderen Reiz aus. Schon zwischen Städten wie München, Köln und Leipzig ergeben sich in den eingesandten Texten Unterschiede. Und auch quer über den europäischen Kontinent von Schottland bis Russland, von Ungarn bis Helsinki bietet der band der „horen“ die Möglichkeit, sich auf ganz unterschiedliche Zeitreisen zu begeben. Wo Autoren wie Uwe Saeger, Lukas Hammerstein oder Angela Krauss in ihren Texten vor allem die Originalmeldungen und Tagebuchnotizen montieren und so einen Spannungsbogen der Tages des Kriegsausbruchs entstehen lassen, gelingt Marcel Beyer daraus eines der überzeugendsten Essays des Bandes überhaupt: Sprachlich von einer Feinsinnigkeit und einem Humor wird die ganze Absurdität der Zeit nachvollziehbar: Aus Modeberichten, Kommentaren über Adelsfotografien und Vergleichen zwischen Deutschland und Frankreich entsteht ein Text, der einfach großartig genannt werden muss.
Ganz anders gingen etwa Uwe Kopetzky oder Ulf Stolerfoht vor. Kopetzky hat in seiner Erzählung „Der erste Türke von Neukölln“ die historischen Ereignisse um das Schicksal deutscher Kriegsschiffe im Mittelmeehr mit der Schilderung einer Kindheit im August 1914 in Neukölln verwoben. Und Ulf Stolterfoht hat in einem Langgedicht den fiktiven Dichtern einer Kneipenrunde die Sprache der verschiedensten expressionistischen Dichter in den Mund gelegt und lässt so die Lyrik zwischen Liebe, Heimatverbundenheit und Patriotismus neu erstehen.
Wenn hundert Jahre nach dem kollektiven Versagen der Militärs und Politiker in Europa die Schriftsteller ihr Bild vom Kriegsausbruch zeichnen, dann ist das für das Verständnis der damaligen Zeit wahrscheinlich hilfreicher als ein Großteil der aktuellen Arbeiten von Historikern. Denn die konsequente Perspektive „von unten“ – von der Zeitung her oder dem zeitunglesenden Subjekt der Erzählungen – kann man sowohl die euphorische Raserei als auch die schrittweise Entzauberung durch die Grausamkeiten des Kriegsgeschehens nachvollziehen.
Mit dieser Welt muss aufgeräumt werden. Autoren blicken auf die Städte Europas. Die Horen. Band 254
Wallstein Verlag, Göttingen 2014
ISBN 9783835314542