Manchmal macht man beim Musikhören Entdeckungen, die einen wie vor den Kopf stoßen. Letztens fand ich den Ende der zwanziger Jahre aufgenommenen ”Bull Doze Blues“ in meiner Sammlung. Sänger ist der 1874 in Big Sandy, Texas, geborene Henry Thomas auch ”Ragtime“ Thomas genannt.
Plötzlich war mir klar, woher [[Canned Heat]] vierzig Jahre später diese geniale Flötenmelodie für ”Coing up the country“ gefunden hatten.
Zwischen 1927 und 1929 nahm der Sohn ehemaliger Sklaven rund zwei Dutzend Lieder auf. Gitarre und das Spiel auf der Panflöte hat er sich selbst beigebracht. Sein Leben verbrachte er größtenteils als Wandermusiker vor allem im Osten von Texas. Aber er tauchte auch auf der Weltausstellung 1904 in St. Louis auf. Erst zwischen 1927 und 1929 entstanden seine 23 Aufnahmen für Vocalion Records. Als er seine Platten einspielte, war er bis nach Chicago gekommen. Sonst ist von seinem Leben nicht viel bekannt. Als Fünfzigjähriger hat er auf seinen Platten Stücke gespielt, die bis in die früheste Zeit des Blues zurück reichen. Daneben spielte er auch Folksongs, Ragtime oder verschiedene Tänze und brachte als sogenannter ”Songster“ eine musikalische Welt zu Gehör, die eigentlich schon Jahrzehnte vorbei war. Er starb wahrscheinlich um 1930 herum. Andere Quellen vermuten, dass er erst in den 50er oder 60er Jahren verstarb. Aber beide Termine sind pure Spekulation. Eine Todesanzeige oder ein Grab sind bis heute nicht aufgefunden worden.
In den 50er Jahren wurde Thomas von den Anhängern des Folkrevival "wiederentdeckt". Denn zwei seiner Lieder erschienen auf der unwahrscheinlich wichtigen "Anthology Of American Folk Music" von Harry Smith. So wurden seine Lieder in den 60er Jahren von Taj Mahal ebenso gecovert wie von Lovin' Spoonful. Und Canned Heat machten aus dem Bull Doze Blues ihr "Goin' Up the Country". Und auch Dylan ("Honey Won't You Allow Me One More Chance") und Grateful Dead ("Don't Ease Me In") spielten seine Lieder neu ein.
Neben seiner lakonischen Art zu singen ist bei seinen Aufnahmen vor allem die Verwendung der Quills, einer auf afrikanische Vorbilder zurückgehenden Panflöte bemerkenswert. Dieses Instrument verleiht den Aufnahmen einen quasi archaischen Touch – selbst für die Zeit von Thomas' Plattenaufnahmen. Die Quills bestehen aus fünf oder mehr an einer Seite geschlossenen Röhren, die nach Länge oder Durchmesser sortiert zusammengebunden wurden. Damit ist die Panflöte (die zu den ältesten Musikinstrumenten der Menschheitsgeschichte gehört) Vorläufer sowohl von der Orgels als auch von der Mundharmonika. Wahrscheinlich hat Thomas sie auf ein Mundharmonika-Gestell montiert, um gleichzeitig Gitarre und Flöte spielen zu können. Canned Heat – die Gründungsmitglieder waren alle auch ernsthafte Blueshistoriker – verwendeten ebenfalls die Quills, um im Sound ähnlich zu ihrem Vorbild zu sein.
Ebenfalls aus Texas stammt auch ein anderer Songster, der 1895 in Navasota geborene Mance Lipscomb. Der wurde, als er 1960 von den kalifornischen Folkloreforschern Chris Strachwitz und Mack McMcormick in seiner Heimatstadt entdeckt wurde, sofort in ein Plattenstudio geschleppt und für deren Label Arhoolie aufgenommen. Bis dahin hatte der 65jährige noch nie eine Platte aufgenommen. In seinem Repertoire, das er bei Tanzveranstaltungen in der Region spielte, fanden sich Blues und Gospel ebenso wie alte Folksongs oder Kinderlieder aus der Frühzeit des 20. Jahrhunderts. Untypisch für den Texas-Blues hatte er für sich allein eine Gitarrenspielweise entwickelt, die mit ihrem Picking eher an Künstler von der Ostküste der USA erinnerte. Sein Geld hatte er bis 1960 als Farmer verdient. Nach der ersten Platte aber findet Lipscomb eine begeisterte Zuhörerschaft unter jungen Weißen. Seine Auftritte auf Festivals im ganzen Land werden stürmisch gefeiert; junge Folk-Musiker wie Joan Baez und Bob Dylan sehen in ihm einen Lehrmeister. Dylan nimmt den Lipscomb-Titel “Baby Won’t You Let Me Lay It On You“ auf Platte auf, seine Coverversion heißt allerdings “Baby Let Me Follow You Down“. Mance Lipscombs Kommentar zu dieser “Anleihe“:
“Ich war froh, dass ich ihm ein wenig helfen konnte, als sein Aufstieg begann.“
Zu den Songstern gehörte auch John Jackson, der 2002 starb.