Es gibt Momente im Leben eines Menschen, die stellen die Weichen für alles Kommende. Manchmal ist es nur eine Bewegung, ein Blick oder eine Berührung, die in ihrer radikalen Konsequenz unvorhersehbare Folgen bedeuten kann. Die Geschichte eines solchen Augenblicks ist <em>Das Eiland </em>der deutschpolnischen Autorin Paulina Schulz.
Liebe am Abgrund der Zeitlichkeit in Paulina Schulz´ Erzählung Das Eiland
Sie erzählt die zwei Geschichten von John, einmal dem Fünfzehnjährigen, der mit seinen Eltern in den Urlaub fährt – auf das titelgebende Eiland – die Insel, die man leicht auch als der Zeit und dem Raum entrückten Sehnsuchtsort lesen kann. Dem gegenüber stehen die Erinnerungen des erwachsenen John, der am Sterbebett seines Vaters die Bilder jenes Sommers auf der Insel wieder hervorruft, dem Scheitelpunkt seines Lebens.
Statt mit den Eltern am Strand zu liegen, streift der Fünfzehnjährige mit seinem Fotoapparat über die Insel, kapselt sich ab, um die Welt endlich allein zu erfahren. Er sucht Bilder, speichert Lichtreflexe auf dem Wasser als Gedanken in seinem Kopf. Es ist ungewöhnlich heiß, der kühle Wind vom Meer schafft es kaum, der drückenden Hitze etwas entgegenzusetzen. Über allem liegt ein Dunst, in dem die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwimmen. In dieser Zwischenzone begegnet John zwei Lichtgestalten, ganz in weiß, leuchtend. Auch ihre Grenzen sind fließend, manchmal vollkommen einzigartig jeder für sich, manchmal untrennbar wie ein einziger Mensch.
Es sind die Zwillinge Milena und Milan, die John in ihre Mitte nehmen und ihm ein anderes Dasein zeigen. Sie führen ihn ein in die Welt der Schönheit, des Rausches und besonders in die Welt der Liebe, der Begierde, des Körpers. Immer stärker fühlt sich John angezogen von den beiden, verliebt sich in das androgyne Mischwesen, verfällt regelrecht dessen mythischer Anziehungskraft. Wie ein Meeresstrudel steuern die zunehmend intensiveren Treffen der drei Jugendlichen, die in ihrem Fatalismus an Bernardo Bertoluccis großartigen Film Die Träumer und in ihrer dekadenten Schönheit an Achim von Borries´ Was nützt die Liebe in Gedanken erinnern, auf einen unvermeidlichen Endpunkt, auf eine Erlösung aus der bis zum Unerträglichen getriebenen Ekstase hin. Die tragische Kraft bezieht die jugendliche Liebe jedoch aus ihrer Nichterfüllbarkeit, aus der Wunschvorstellung und der Phantasie. Wird der Wunsch nach geistiger und körperlicher Vereinigung dennoch in Realität überführt, zerbricht der Glanz des Unerfüllbaren. Paulina Schulz verwebt die entzaubernde und destruktive Kraft, die in dieser Erfüllung steckt, geschickt mit einer konkreten Gefahr für Leib und Leben. In der doppelten Grenzüberschreitung einer Nacht stirbt einer der Zwillinge fast, während der andere nackt mit John das Bett teilt. Die Gefahr des Folgenden liegt nun omnipräsent in der Luft, kann aber weder von John noch den Zwillingen verhindert werden. Mit unausweichlicher Stringenz steuern die Jugendlichen auf die letzte Nacht zu, ab der „alles anders sein würde“, denn „sie hatten eine Grenze überschritten.“
Gerade weil es Paulina Schulz so konsequent offen lässt, warum die Zwillinge so handeln, wie sie handeln, bleibt Johns Scheitern an ihrer Schönheit so mystisch befremdlich. Das Geheimnis dieser Liebe wird nicht aufgelöst im dramaturgischen und sinnlichen Höhepunkt der Geschichte, sondern bleibt als hochsommerliche Luftspiegelung flirrend hinter den Worten versteckt. Aus diesem Grund ist Das Eiland weit mehr als eine Coming-of-Age-Geschichte. Es ist der Sprache gewordene Wunsch, Zeit zu konservieren in Fotos, in zu Bildern gewordenen Gefühlen, um dort die Erklärung für das Unerklärliche zu finden. Hier schließt sich der Kreis zur Geschichte des zweiten John, dem John nach diesem Sommer, der sich erinnert und auf sein Leben zurückblickt, als ein Fotograf der viele Jahre mit nichts anderem verbrachte, als durch seine Bilder die Zeit für einen Augenblick anzuhalten. Die Tragik seines Lebens wird deutlich, wenn er seinen sterbenden Vater betrachtet als Motiv einer Fotografie:
„Es würde sich gut machen in Schwarz-Weiß, denke ich. Die fleckige Struktur der sich auflösenden Haut.“ Statt die Wesenhaftigkeit der Dinge zu hinterfragen, verharrt sein Blick an deren Oberfläche.
Als Leser bleibt man am Ende der Lektüre zurück mit der Frage, ob es wirklich immer Erklärungen für alles geben muss. Aber auch mit einer latenten Sehnsucht nach jenen warmen Inseltagen der eigenen Jugend. Die Lektüre lohnt, denn was mehr muss ein Buch können, als Fragen stellen und Sehnsucht wecken?
Paulina Schulz: Das Eiland. Erzählung
freiraum-verlag 2014, 120 Seiten
Preis: 12,95 Euro
ISBN: 978-3-943672-32-9