Von der Boulevardisierung der Medien wird gerne gesprochen. Hier die Qualitätsmedien mit ihrem professionellen Journalismus – da der Boulevard, der sich konsequent an der Sensationsgeilheit und dem Bedürfnis nach flacher Unterhaltung orientiert. „Hoffentlich erreicht die Boulevardisierung niemals den Blues“, meinte da kürzlich im Internet ein Bekannter. Doch ist er nicht längst angekommen in dieser Musik?
Als Rezensent hat man es nicht immer leicht. Gerade wenn man sich der Aufgabe verschrieben hat, einer absoluten Spartenmusik mit einer eng umgrenzten Fangemeinde zu medialer Öffentlichkeit zu verhelfen. Jede Woche erscheinen neue Alben und buhlen um einen kleinen Markt, eine Käuferschicht, die im Vergleich zum gesamten Popmarkt eigentlich zu vernachlässigen ist. Und wenn man sich durch den Berg an Neuerscheinungen durchgehört hat, stellt man sich oft die Frage: Was wird davon den Test der Zeit überstehen? Wo ist das Besondere, das herausragende Werk, dass man auch seinen Freunden empfehlen kann, die nicht eingefleischte Bluesjünger sind? Vieles bleibt da nicht übrig. Denn seien wir mal ehrlich: Wie überall ist ein Großteil dieser Musik bestenfalls interessant (sprich: mittelmäßig). Da beherrschen Musiker ihr Handwerk, haben die Skalen und Rhythmen, die Sprache und die Klischees gelernt. Doch macht sie das zu herausragenden Künstlern? Meist nicht. Denn das Handwerk reicht nicht aus. Der Blues ist eben mehr als nur ein Stil, er ist mehr als nur eine Ansammlung von Klischees. Wenn es „echter“ Blues ist, dann müssen da Künstler am Werke sein, die den Mut zur schonungslosen Ehrlichkeit haben, die ihre Verletzlichkeit ebenso wie ihre Stärke in ihre Musik packen, die ihre eigenen Geschichten erzählen und damit die „Gemeinde“ direkt ansprechen.
Oft sind die Alben nur Wiederholungen der alten Geschichten. Bei Wettbewerben spricht man oft von der „No Mustang Sally“-Regel, wenn es um die Beurteilung der Qualität einer Band geht. Spricht hier jemand erkennbar eine eigene Sprache – oder holt er nur die sicheren Klassiker heraus, um Stimmung zu machen und Applaus zu ernten? Der „Mustang Sallies“ gibt es viele im Blues: Ob nun zum tausendsten Mal „Sweet Home Chicago“ oder „Rollin & Tumblin“ auf Platte gepresst wird oder der technisch versierte Junggitarrist so spielt, als wolle er Alvin Lees Solo vom Woodstock-Festival in seinem Song an Geschwindigkeit und Notendichte noch übertreffen. Oder es werden Effekte bis zum Exzess bemüht und überstrapaziert, die damals bei Jimi Hendrix noch neu und unverbraucht waren. Und wenn eigene Songs geschrieben werden, dann drehen sie sich meist um Frauen und Kneipen. „Im Blues geht es eigentlich nur um Beziehungen,“ meint ein befreundeter Musiker in jedem Konzert. Und jedes Mal bin ich kurz davor, ihm in seine einstudierte Ansage reinzuquatschen: Nein! Blues ist mehr, Blues ist mehr als Kneipenmusik für einen netten Abend. Blues ist mehr als die ständige Wiederholung von Klischees in Text und Melodie. Wirklicher Blues muss mehr sein. Blues nach dem „Mustang Sally“-Schema ist nicht mehr als „Musikantenstadl“ für Gitarrenfreaks! Das ist volkstümliche Musik für Bikertreffs. Das ist Musik auf „Bild“-Niveau! Hier hat der Boulevard längst den Blues vereinnahmt.
Man kann sich des Zuspruchs sicher sein, mit seinem technisch brillianten Solo in der tausendsten Neuinterpretation einer Nummer von Robert Johnson oder von wem auch immer. Aber man macht da nichts anderes als die Schürzenjäger oder die Wildecker Herzbuben. Ein Großteil der Veröffentlichungen im Blues spielt sich mittlerweile auf diesem Niveau ab.
Oft gewinnt man damit sogar Preise – denn je individueller, je unvorhersagbarer man mit seinen Songs ist, desto eher ruft man die auf die reine Lehre bedachte Bluespolizei auf den Plan. Was störend ist wird ignoriert – oder sofort niedergemacht. Der tausendste Klon von Stevie Ray Vaughan ist immer noch einfacher zu mögen als der Freak, der einem ungewohnte Hörerlebnisse zumutet.
Klar bekommen Alben wie die Veröffentlichungen von Anders Osborne großartige Kritiken (völlig zu Recht). Doch wenn man ehrlich sein will: Alben von dieser Qualität gibt es viel zu wenige im Laufe eines Jahres. Und wenn noch unbekannte Musiker mit derartigen Veröffentlichungen auf den Markt kommen, werden sie oft gar nicht erst wahrgenommen. Denn es ist ja so viel einfacher, die Seiten mit den bekannten Namen zu füllen., deren Alben man von den Plattenfirmen problemlos zugeschickt bekommt. Zur ernsthaften Recherche, was denn jenseits des Gängigen im weiten Feld des Blues so passiert, bleibt mir oftmals viel zu wenig Zeit und Kraft übrig. Und damit trage ich selbst auch zu der Boulevardisierung des Blues bei. Schöner Mist!