Wie’s konkret sich vollzog, kann ich nicht berichten. Ich war wie betäubt. Oder ist’s, dass die Anatomie eines Entschwindens das Geheimnis ihres Vollzugs hütet gegenüber jeder Wahrnehmung? Die Stadt mochte unter uns gewesen sein, weil mir einmal war, wie es einem wiederkehrenden Zugvogel sein mag, wenn er nach der kalten, ihm widrigen Winterszeit wieder einfliegt in sein Gefilde – ich glaubte, abzustürzen vor Glück. Einmal war’s auch, als würden wir von unten in die Stadt gelangen, als stiegen wir aus der tiefsten Finsternis, getrieben durch Schründe und Katakomben und ich würde bersten, weil der Druck des Gewesenen so geschwind sich verlor, sodass ich erwartete, mich aufzulösen in restloser Entfesselung.<br />
Exklusiver Vorabdruck aus „Faust Junior“ von Uwe Saeger, das am 10.3. 2014 im Greifswalder freiraum-verlag erscheint.
Und dann war’s in einem Park, wo wir festen Boden unter die Füße bekamen. Ein prächtiger Sommertag. Nachmittags. Jede Menge Städter beim Sonntagsspaziergang. Männer. Frauen. Kinder. Hunde. Jogger. Trinker. Ordnungshüter. Sonnenbader und Schattensucher. Kaffeerunden. Grillpartys. Klatsch, Streits um die besten Klingeltöne oder ob Schwarz-Gelb oder Rot-Grün die beschissenere Politik machten. Musik jeder Stilrichtung. Ein dicker Mann und eine dünne Frau bei einem Badmintonspiel. Ein fünfjähriges Mädchen auf dem Schoß eines alten Mannes, der Faust ähnlich sieht. Er streichelte ihr Knie, sie kitzelte ihn mit einem Grashalm im Gesicht.
„Wo sind wir?“, fragte Faust.
Mephisto sagte: „Da kriegst du die Maulsperre bei so viel Paradies. Was Johann?“
Und ich erklärte ihnen: „Ein Stadtpark. Nichts für vermögende Menschen. Proletenwiesen.“ Ich zog die beiden zu einer Bank. „Als Kind war ich mit meiner Mutter einen Sommer lang jedes Wochenende hier.“
„Warum nur einen Sommer?“ Mein Vater setzte sich auf die Bank. „Und was hattet ihr hier zu treiben?“
„Das war der Sommer, der einzige allerdings, als sie die Nase voll hatte von Männern und sie sich ganz mir widmete, wie sie’s sagte. Sie konnte ziemlich lästig werden, wenn sie auf anhänglich machte.“ Ich drückte Mephisto neben Faust auf die Bank. „Ihr wartet hier auf mich. Ich geh mal was abchecken.“
„Nein“, sagte Faust. „Du gehst nichts abchecken und nichts zudecken. Wir bleiben zusammen.“
„Also ehrlich“, Mephisto schüttelte sich und blickte beunruhigt um sich, „ich habe Probleme. Dieser Bereich ist eine pralle Problemzone für mich.“
„Mach dich zur Töle und tobe dich aus mit den andern Kötern“, sagte Faust. Er atmete schwer, sein Gesicht rötete sich. „Ich brauche eine Verschnaufpause!“
„Das ist zu viel Licht.“ Mephisto kratzte an seiner Brust. „Verträgst du’s, Faust?“
„Das Licht ist’s nicht, was mich schwindelig macht.“ Faust knöpfte den Hemdkragen auf. „Die Luft ist’s. Wir sind im Freien, aber es ist keine Luft wie im Freien.“
„Wahrscheinlich Feinstaubbelastungsstufe vier“, sagte ich. „Zu Abend bessert’s sich gewöhnlich.“
„Zum Abend bin ich verreckt, wenn’s sich nicht vorher bessert.“ Faust streckte sich auf der Bank aus, schubste dafür Mephisto mit einem Fußtritt bis an den Rand der Sitzfläche. „Du passt auf, Justus! Das sieht hier nur so friedlich aus wie zum Osterspaziergang.“
„Ich bin doch nicht aus der Anstalt raus, um woanders abzuhängen.“ Ich trommelte ein Crescendo auf den Gitarrenboden. „Wir müssen rauskriegen, wo das nächste Casting zum Superstar stattfindet.“
Mephisto saß da wie ein Häufchen Unglück, hielt die Hände zwischen die Knie verklemmt, als hätte er eingemacht oder könne einem Juckreiz nur schwer widerstehen. „Stell dich mal so“, sagte er zu mir, „dass ich etwas Schatten habe. So viel Licht, da zerreißt es mich bald.“
Aber da kam der Schatten schon angetrabt und das in doppelter Ausfertigung. Zwei, den Kraftatzen in der Anstalt vergleichbare Typen standen neben der Bank. Sie waren uniform dunkelblau gekleidet, nicht sichtbar bewaffnet, aber mit Funkgeräten ausgerüstet.
„Städtisches Ordnungsamt“, sagte der eine. „Qualwass mein Name.“ Er deutete auf den Typen neben sich. „Das ist mein Kollege Unferfert.“
„Mir ist schlecht“, sagte Faust. „Die frische Luft, die keine frische Luft ist, macht mich fertig.“
„Unsere Stadt“, sagte Unferfert, „hat die besten Smogwerte des Landes.“
„Also, Bürger“, sagte Qualwass, „nehmen Sie Ihre Füße von der Sitzfläche dieser Ruheinstallation. Auch die anderen Bürger haben einen berechtigten Anspruch auf Sauberkeit.“
„Und wir sind dafür da, das zu beaufsichtigen und gegebenenfalls durchzusetzen“, sagte Unferfert.
„Lassen Sie es also nicht darauf ankommen“, ergänzte Qualwass, der sah, dass mein Vater nur Bahnhof verstand. „Wir sind jederzeit in der Lage, eine Polizeistreife zu rufen.“
Mephisto spuckte aus, randscharf bis vor die blankgewichsten schwarzen Schnürstiefel der beiden Ordnungshüter. „Das habe ich doch schon einmal gehört“, sagte er. „Und was, wenn der Mann es darauf ankommen lässt?“
„Sie, Bürger, halten sich raus“, sagte Unferfert. „Sie sind mit keiner Verfehlung gegen die Parkordnung auffällig geworden.“
„Dann geben Sie sie mir zur Kenntnis.“ Mephisto spuckt den beiden ein zweites Mal vor die Füße. „Damit ich weiß, was ich anstellen muss, um auffällig zu werden.“
„Spucken ist nicht aufgeführt, aber wir werden es bei der Behörde anregen.“ Qualwass ging einen Schritt zurück. „Wir tun hier nur unsere Pflicht. Das sage ich, und ich bin dazu nicht verpflichtet, damit wir uns nicht falsch verstehen.“
„Wenn Sie also nicht nur ihre Pflicht täten, würden sie auch auf Bänken rumlümmeln und in die Gegend rotzen und sich mit Leuten, die nur Ihre Pflicht tun, anlegen?“ Mephisto stand auf. Er war so groß, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, größer als Qualwass und Unferfert, und er rollte die Schultern, als ginge es für ihn in eine Rauferei. „Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollten’s doch, dass wir uns nicht falsch verstehen.“
„Ihrer Papiere! Bitte!“ Qualwass machte sich kontrollbereit. „Von Ihnen beiden die Papiere. Bitte!“ Er tippte Faust an, der am Einschlafen war.
„Häh?“ Faust hob den Kopf, blinzelte. „Jag sie zum Teufel“, sagte er zu Mephisto. „Wir sind doch schon mit ganz anderen Banditen und Wegelagerern fertiggeworden.“
„Beleidigungen werden zur Anzeige gebracht“, sagte Unferfert. „Und für Bandit und Wegelagerer gibt’s eine saftige Geldstrafe, das kann ich Ihnen versprechen. Und in ganz schweren Fällen sind auch schon Haftstrafen verhängt worden.“
„Also!“ Qualwass schlug seinen Formularblock auf. „Wenn die Herrschaften Lust auf eine Justizvollzugsanstalt haben, dann müssen Sie sich nur weiter so große Mühe geben, kooperativ zu sein.“
„Ich gebe mir keine Mühe“, sagte Faust. „Ich will nur in Ruhe gelassen werden.“
„Melde die Herren doch bei den Kameraden vom Wachdienst an“, sagte Unferfert zu Qualwass. „Wozu haben wir eine Polizei?“
„Wenn ich was erklären darf“, wandte ich mich an Qualwass. „Das ist ein Missverständnis. Mein Vater und …“, ich nickte auf Faust und ich nickte auf Mephisto „… sein Freund waren für längere Zeit nicht unter uns, sie müssen sich erst eingewöhnen, dieses Leben hier ist komplett neu für sie.“
„Ihre Ausweise würden wir trotzdem gern sehen“, sagte Unferfert. Er schlug seinen Block auf. „Ordnung muss sein.“
„Unsere Papiere sind im Hotel“, sagte ich.
Und Mephisto sagte und zeigte auf Faust: „Das ist Faust. Sagt euch das nichts? Jungs! Faust ist’s. Der Faust, der sich mir verschrieb, um das Prinzip der Welt zu durchschauen. Faust! Der einmalige Fall eines Mannes von Weltruf, der nicht zu ruinieren ist!“
Qualwass und Unferfert verständigten sich mit einem Blick. „Haben Sie getrunken?“, fragte Unferfert. „Oder haben Sie Suchtmittel konsumiert?“
Und Qualwass sagte in sein Funkgerät: „An Zentrale. Hier OK Bürgerpark. Haben drei Personen ohne Personaldokumente. Starkes Aggressionspotenzial. Brauchen Unterstützung. Ja, eine Streifenbereitschaft dürfte ausreichend sein.“
„Das ist ein Missverständnis“, wiederholte ich. „Lassen Sie es mich doch erklären!“
Es standen schon einige Gaffer um uns. Einer klopfte Qualwass auf die Schulter, sagte: „Lasst den Brüdern nischt durchjehn. Habn wia uns jenuch jequält, dat wa Ruhe habn hier un Ordnung, wo et sonst inne Stadt nur so bumst von Klamauke. Schwul sehn se aus, aba wat uffem Kerbholz habn se ooch.“
„Das ist mein Vater Johann Heinrich Faust“, rief ich und versuchte, ihn von der Bank hochzuziehen. „Er ist nicht mehr der Jüngste und ruht sich nur aus. Wir haben eine anstrengende Reise hinter uns.“
„Und wo kommen wir her?“, fragte Unferfert.
„Aus der Anstalt meines Vaters“, antwortete ich spontan.
„Vom Stern der nackten Seelen kommen wir“, sagte Mephisto.
„Wer aus einer Anstalt kommt, hat, wenn er nicht getürmt ist, Entlassungspapiere“, sagte Unferfert. „Die werdet ihr doch dabeihaben?“
Und Qualwass sagte ins Funkgerät: „Die Streife soll Gas geben. Unsere Klienten kommen aus einer Anstalt und können ihre Entlassung nicht belegen. Checkt doch mal die Fluchtliste.“
„Begreifen Sie’s denn nicht? Begreift’s hier keiner?“, schrie ich. „Das ist mein Vater. Und mein Vater ist Faust. Faust!!! Nichts gelernt in der Schule? Nur auf Verweigerung gemacht und Ausländerkinder gemobbt?“
„Bitte“, sagte Qualwass. „Ich habe das Abitur.“
„Und ich habe zwei Berufe und beide Lehren mit besten Noten abgeschlossen.“ Unferfert musterte Mephisto. „Und als ich in der Schule war, gab’s noch nichts mit Verweigerung.“ Er flüsterte Qualwass etwas zu. Der nickte, musterte Mephisto ebenfalls.
Von den Gaffern sagte eine Frau: „Wenn der Olle Faust is, denn is der, der vom andern Stern jekommen sein will, Mephistopheles. Hah!“
„Und wenn det so is“, sagte ein anderer, „denn steht hier irjendwo ne versteckte Kamera und det jiebt gleich wat zu lachen.“
Qualwass und Unferfert blickten in die Runde, waren verunsichert.
„Auf öffentliche Verarsche habe ich keinen Bock“, sagte Unferfert.
Qualwass hatte sich entschlossen, die harte Tour zu fahren. Er zog Faust von der Bank und schnauzte ihn an: „Auch Ihr hohes Alter ist kein Freibrief für öffentliches Fehlverhalten, Bürger. Sagen Sie mir Ihre Personalien, damit mein Kollege das von der Zentrale überprüfen lassen kann.“
„Ich heiße Faust und ich bin Faust.“ Mein Vater ballte erbost beide Hände, erhob sie drohend gegen Qualwass. Der wollte mit einem Abwehrgriff parieren. Aber dazu kam er nicht. Denn ein großer schwarzer Pudel sprang ihn an, biss in den Arm, der Faust am nächsten war, und zerrte ihn zu Boden. Es war sofort Tumult. Qualwass schrie um Hilfe. Die Hälfte der Gaffer schrie um Hilfe und die andere Hälfte verdünnisierte sich. Unferfert wusste überhaupt nicht, was er tun sollte. Den Pudel anzufassen, wagte er nicht. Der hatte Qualwass’ Arm zwar nicht weiter zwischen den Zähnen, stand aber knurrend über ihm, bereit, ihm beim nächsten Angriff, sollte der nötig werden, an die Kehle zu gehen.
„Wo ist der dritte geblieben?“, fragte Unferfert ein ums andere Mal, weil er Mephisto nicht mehr sah.
Zugleich zog der Vorfall, oder war’s auch nur von den Lauten des Pudels bestimmt, zu hundertzwölf Prozent alle Hunde im Park an den Ort des Geschehens. Labradors, Retriever, Collies, Terrier, Dackel, zwei Schäferhunde, eine Dogge und ein Pinscher kamen im vollen Sprint gelaufen. Davor verzogen sich auch die letzten Gaffer. Und Unferfert flüchtete auf die Bank und wäre wohl auf den Mount Everest gestiegen, hätte das die einzige Möglichkeit geboten, in Sicherheit zu gelangen, dass er die in fünfzig Zentimeter Höhe auch nicht hatte, realisierte er nicht. Bis auf die Dogge, die sich dann doch betont vornehm abseits hielt, machten die anderen Hunde, ohne dass es einer wagte, ihn zu beißen, gegen den Pudel Front. Sie rochen’s, dass der nicht in ihre Meute gehörte und dass er nur deshalb das Unerhörte gewagt hatte, einen Menschen anzugreifen, und vielleicht solidarisierten sie sich auch, weil sie ihren guten Ruf hier nicht durch dieses Vieh in Verruf bringen lassen wollten; auch Hunden mag, geht’s um Privilegien und fettes Leben, der eigne Arsch näher sein als ihre Natur.
Die Sirene eines Streifenwagens setzte ein. Und die beiden Schäferhunde, Deutsche Schäferhunde, wie unschwer an ihrer überzüchteten Erscheinung auszumachen war, setzten sich aufs Hinterteil, reckten die Schnauzen hoch und jaulten.
„Wir empfehlen uns“, sagte Faust und packte mich. „Das wird mir zu heiß.“ Wir schlugen uns in die Büsche.
Unferfert hopste auf der Bank rum und winkte dem Streifenwagen, so verschmutzte er die Ruheinstallation vollends. Qualwass, dem der Rücken kalt geworden war von der Kälte des Bodens, nieste wohl an die tausend Mal und brachte den Pudel damit auf Abstand.
„Aber wir können doch unseren Mephisto nicht im Stich lassen“, sagte ich. Ich schaffte es nicht, meinen Vater aufzuhalten, er bewegte sich so flink und kraftvoll, als wär’s mit ihm wie nach einer zweiten Transfusion. „Er geht aufs Äußerste und du …“
„Er ist noch immer Teufel.“ Mein Vater lachte grell. „Da rauszukommen, ist für ihn ein Klacks. Und wofür haben wir ihn mitgenommen, als dass er uns aus der Patsche hilft! Kein anderer ist so für Drecksarbeit geschaffen wie er. Ich kenne mich aus mit ihm, das weißt du doch und das kannst du mir glauben. Wenn er sich so beweisen kann wie jetzt, ist er in seinem zweiten Element. Er fühlt sich pudelwohl, wenn er die Zähne zeigen darf und alles auf ihn guckt und ihn doch kein einziger durchschaut. Du solltest dir übrigens besser überlegen, was du sagst.“
„Und du solltest aufpassen, wo du deine Füße ablegst“, sagte ich. „Hättest du dich nicht so daneben benommen, wäre uns der Schlamassel erspart geblieben. Du solltest dir bewusster machen, in was für einer Zeit wir uns befinden.“
„Da habe ich ja Glück gehabt, dass ich nicht pissen musste! Die hätten mir womöglich die Rute abgeschnitten. Hah!“
„Vergiss dein Mittelalter, Papa.“
Wir waren aus dem Park gelangt und gingen zwischen Häuserfronten. Der Verkehr zur Rushhour. Fußgänger hetzten. Großstadtgetriebe.
Faust klammerte sich an mich, er zitterte. „In was für ’nen Krieg sind wir geraten?“, fragte er. „Junge! Hier weiß doch keiner, wer Freund ist und wer Feind.“
„Die Stadt hat vier Millionen Einwohner“, sagte ich. „Und ’ne Großstadtidylle ist ’n Hirngespinst, weil …“
Aber da hörte Faust mir schon nicht mehr zu. Er starrte nach vorne, wo uns ein baumlanger, breitschultriger Neger im knallgelben Sakko entgegenkam. Mit der einen Hand hielt er ein Handy am Ohr, im andern Arm trug er einen winzigen Hund, dem das Stirnhaar zu einem Büschel auffrisiert und mit einer Schleife in der Farbe seines Sakkos zusammengebunden war. Der Neger ging mit seinem Hund im Strom der Passanten an uns vorbei, wir hörten, dass er mindestens zehntausend Mal „Yes, Mam“ ins Handy sagte. Faust wischte sich die Augen aus. „Heiliger Vater“, sagte er. „Wer hat den Kerl gemacht?“
„Das ist einer von den neuen Prinzen“, sagte ich. „Der hält sich ein paar Bordsteinschwalben auf’m Strich oder wirft in jedem Spiel zwanzig Körbe für Alba.“
„Ein Prinz ist der Sohn eines Königs.“ Faust schüttelte sich. „Und wenn’s Zeiten sind, dass die Könige schwarz werden, verdirbt das Wasser und das Feuer verlischt für immer und für nichts gibt’s dann einen Anfang mehr.“
Ich führte uns in eine Nebenstraße. Was und wie’s weiter mit uns geschehen sollte, dafür hatte ich keinen Plan. Aber mich machte die Stadt an, im Gegensatz zu meinem Vater, mit ihrem Getriebe, ihren Gerüchen, dem unausgesetzten Versprechen, dass an der nächsten Ecke passiert, was das Leben neu anreizt und den Pep gibt für ’nen Neustart. Die ganze Unternehmung, so zeigte sich’s jetzt schon, war auf Pleite angelegt. Mein Vater und Mephisto, den wir abschreiben konnten, denn wie sollte er uns finden, passten nichts ins Heute, sie waren Gestrige und würden’s bleiben. In der Anstalt war das nicht entscheidend ins Gewicht gefallen. Die entrümpelten Seelen, die Fausts Reich dort füllten, brauchten zwar keine Verstellungen mehr, die Schere zwischen Sein und Dasein war auf den kleinstmöglichen Nenner gefahren, zu existieren, war zur Organisationsform umfunktioniert und die Freiheit des zumutbaren Wahnsinns verschönte jedes Ich bis ins Innerste. Von Erinnerungen, mit dem Ballast von Gelebtem, wurde nicht verhandelt. Die Seinskultur im Reich meines Vaters war klinisch steril, anstaltsgemäß eben und eine Imagination, wie’s Seelen zukommt; und das heißt, sie entwöhnte vom Leben, sie machte untauglich, sich in einer Gegenwart als Kind der Zeit einzufinden. Faust und Mephisto waren fürs Heute verloren, waren aufgebraucht von ihren eigenen Geschichten, von den wieder und wieder zurechtgeschneiderten Fassungen ihrer Bedeutung und das Anpassen an Zeitgeist und Gewöhnung.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich.
„Wenn ich noch einmal den schwarzen Prinzen sehen könnte!“ Faust reckte sich, um mehr Überblick zu bekommen. „Der Kerl ist geschaffen zum Fels. Der muss nicht sagen, ich bin ein Fels. Dem sieht man’s an und nimmt’s ihm ab.“
„Andere Sorgen hast du nicht?“
„Doch.“ Faust machte eine Bewegung, als versuche er, in sich zurück zu kriechen. „Dieser Lärm! Das Licht! So viel Licht! Verfügt denn jeder über Licht hier? Die vielen Menschen unterwegs. Wird denn vor jedem Tor zur Stadt eine Hinrichtung gegeben? Und die Kinder! Das sind alle kleine Erwachsene. Nur die Konfektionsgröße macht den Unterschied. Das ist nicht gut und ist nicht von Sinn.“
„Wir leben in einem Sozialstaat. Es gibt Leute, die machen Kinder nur, um sich finanziell durchs Leben zu bringen.“
„Egal, wie ein Staat sich nennt, die Kinder werden von den Eltern ernährt, nicht von Präsidenten, Kanzlern, Ministern oder Fürsten.“
„Du hast nicht mal einen Ausweis und spuckst große Töne! Zu deiner Zeit war Politik ein Nachweis von Stärke, also Geld, Soldaten und Waffen, heute geht’s nur noch um Geld.“
„Ohne Moos, nichts los“, sagte Faust. „So war’s und so bleibt’s.“
Zwei Polizeimannschaftswagen parkten mitten vor uns auf der Straße, versperrten sie. Die Mannschaften bezogen Position. Jeder Mann hatte eine Sturmmaske übers Gesicht gezogen, trug Abwehrschild und Schlagstock. Wenn das meinem Vater und mir gelten sollte, war’s ein verpatztes Manöver, aber als Straßentheater konnte es sich durchaus beeindruckend entwickeln.
„Das ist die Garde des Fürsten“, sagte Faust und drängte bis zur Absperrung vor. „Hörst du den Hufschlag? Er kommt in seiner Kutsche.“
Aber was Faust als Hufschlag gedeutet hatte, waren die Tritte von einigen hundert Leuten, die Springerstiefel an den Füßen trugen und die die eisenbeschlagenen Sohlen, obwohl sie in lockerer Formation marschierten, im Gleichschritt aufs Pflaster setzten. Alle waren dunkel gekleidet, auch die Frauen – Qualwass und Unferfert wären nicht aufgefallen in dem Pulk. Die Männer hatten zum überwiegenden Teil die Haare kurz geschoren und waren im Gesicht und Nacken, auf den Armen und Händen mit germanisch-teutonischen Symbolen tätowiert. So mancher schleppte ein Transparent oder Schild mit sich, auf denen Parolen wie „Deutschland den Deutschen“, „Arbeit für alle“ oder „Der Feind steht links und in der Mitte“ geschrieben standen. Sprüche oder Gebrüll gab’s nicht. Es war eine stumme, aber bedrohliche Prozession.
Und ich weiß nicht, was Faust dazu verleitete, zu rufen: „Ihr müsst euch schlagen! Ihr müsst euch geißeln! Ihr müsst eurer Idee einen Ausdruck geben! Die Stummen hört der Herr nicht. Und wer ihm nicht gibt von sich, wird auch von ihm nichts erhalten.“
Ich riss meinen Vater zurück und trat ihn auch. „Das sind Rechte“, sagte ich. „Da mische du dich nicht ein.“
„Warum sind das Rechte?“ Faust machte sich los von mir. „Die gehen mitten auf der Straße. Und dahin gehe ich jetzt auch.“ Faust durchbrach das Absperrungsspalier der Polizeikräfte. Die beiden, zwischen denen er’s schaffte, versuchten ihn aufzuhalten, aber er entwischte. „Justus, komm!“, rief er mir zu. „Hier kommen wir voran.“
„Lassen Sie mich durch“, bat ich einen Polizisten. „Mein Vater ist etwas verwirrt. Ich muss ihn zurückholen.“
„Das schaffst du nicht mehr“, wurde mir geantwortet. „Noch fünfzig Meter und diese braune Suppe trifft auf die Autonomen. Uns ist ein taktischer Fehler unterlaufen. Nun können wir’s nicht mehr verhindern, nur noch dazwischen gehen.“
„Papa!“, rief ich. „Komm zurück! Das wird gefährlich.“
Faust winkte mir, dass ich an seine Seite kommen sollte. Die Polizisten vor mir rückten die Sturmmasken zurecht, zogen die Kinnriemen ihrer Schutzhelme fester. Es gelang mir, mich zwischen ihnen hindurch zu drängen und ich lief zu meinem Vater. Wir waren inmitten der Rechten und Faust machte ein Gesicht, als wäre er zum Gaudi auf einer Kirmes. Er deutete auf den tätowierten Nacken eines Klopses vor mir. „Dieses Zeichen, Justus“, sagte er, „hat eine geheime Kraft.“
„Das ist Firlefanz“, sagte ich. „Und jede Haut sollte zu schade sein dafür.“
Der Klops wandte sich zu uns um. „Ihr seid vorgemerkt“, sagte er. „Wenn wir die Zecken aufgemischt haben, dann seid ihr dran.“
Da flogen die ersten Steine und es wurde gerufen: „Nazis raus!“ Was dann genau passierte, konnte weder Faust noch ich uns erklären. Zuerst schien es, als würde es an uns vorüberziehen. Die Rechten drängten vor und wurden doch zusammengetrieben. Trillerpfeifen wurden geblasen. Über Polizeilautsprecher wurde aufgefordert, auseinanderzugehen und Konflikte zu vermeiden, sonst würde hart durchgegriffen. Der Klops, der sich immer noch vor uns hielt, hatte auf einmal einen blutigen Schädel, fuchtelte mit blutbeschmierten Händen herum und schrie. „Das ist der Krieg! Kameraden! Jetzt wird zurückgeschlagen. Vorwärts!“ Er preschte zwischen seinen Kameraden, von denen die meisten Schlagringe, Klappmesser und Baseballschläger bereithielten, nach vorn in die Kampfzone. Dadurch bekamen Faust und ich etwas Luft. Doch schon flutete die braune Kamarilla wieder zurück, getrieben von den Polizisten, die dazwischenhieben, als wär’s die letzte Schlacht, die sie zu gewinnen hatten. „Ihr Verräter!“, schrien die Rechten gegen sie. „Die andern müsst ihr schlagen!“ Faust und ich ließen uns beiseite drängen und verbargen uns halb hinter einem Bauschuttcontainer. Der Strahl eines Wasserwerfers streifte uns, machte uns in Sekunden klatschnass. Ich trat auf die Straße zurück und protestierte: „Wir haben damit nichts zu tun. Wir sind zufällig hier.“ Und da blickte ich in zwei vom Schlitz der Sturmmaske umrahmte Augen, die ich kannte. Und der Polizist kannte und erkannte mich ebenfalls, so viel war Fakt. Er wandte sich an den Mann neben ihm, sagte ihm was und deutete auf mich. Der nickte und verschwand zur Seite. Das musste eine Bedeutung haben. Und ob eine für mich günstige, stand nicht einmal in den Sternen. Also war’s angesagt, dass Faust und ich die Szene verließen. Aber wieder war er das Problem, denn er stand nicht mehr hinter mir. „Papa!“, rief ich, was bei dem Krawall ein Pups in den Wind war. Und ich schrie: „Faust! Wo bist du, Faust?“
Da kam er aus einem Backshop, hinter ihm wurden die Schutzgitter runtergelassen, mit einem Quadratmeter großen Stück Zuckerkuchen, von dem er gierig Bissen um Bissen in den Mund stopfte und verschlang. Er strahlte mich an. „Das musst du kosten, Justus! Das ist ein fürstlicher Genuss.“
„Du hast geklaut?“ Ich hätte meinen Vater knutschen mögen – wenn uns noch ein Diebstahl anzuhängen war, würde für mich nichts mehr gehen in Richtung Superstar.
„Mundraub“, sagte Faust kauend.
„Wir machen endgültig die Fliege“, ordnete ich an. Ich wollte Faust entgegeneilen und mit ihm verschwinden von diesem Ort, dessen Bedenklichkeit zwar eine andere war als die des von meinem homunkuluiden Freundes beschriebene Bedenklichkeit des bedenklichen Ortes im Reich meines Vaters; aber eben deshalb war’s geboten, zu flüchten, vielleicht kam nach dem Wasserwerfer ein Flammenwerfer zum Einsatz und wir würden abgefackelt werden. Doch traf’s mich in den Rücken mit einem Schlag, der die Gitarre zu Bruch gingen ließ, und in die Kniekehlen mit einem Tritt und ich klatschte vornüber aufs Pflaster. Meine Arme wurden auf den Rücken gezwungen und beide Handgelenke mit einer Plastikschlinge aneinandergefesselt. Mein Kopf wurde neben einem frischen Haufen Hundescheiße mit einem Knie auf dem Boden fixiert und auch meine Füße wurden mit einer Schlinge gefesselt. Ich empfand nur Scham, keinen Schmerz und keine Wut. Und diese Scham lähmte mich. Ich lag vor meinem Vater im Dreck, ein zur Strecke gebrachter Übeltäter, ohne Ehre und entwürdigt.
Faust beugte sich über mich, zerrte mit einer Hand an meinen gefesselten Armen. Das Stück Kuchen hatte er zur Hälfte weggefuttert. Von seinem Mund bröckelten Krümel in mein Haar. „Was haben sie mit dir gemacht, mein Sohn? Was hast du gemacht?“
„Nichts habe ich gemacht. Ich habe nach dir gerufen. Und schon gab’s einen rüber.“
Faust richtete sich auf. „Bürger!“, rief er. „Zu Hilfe, Bürger! Hier ist Unrecht geschehen. Wir haben mit dem Krieg nichts gemein. Helft doch!“
Und schon lag mein Vater ebenfalls neben mir im Dreck und die Hundescheiße war von seinem Kopf genauso weit entfernt, wie sie meinem nahe war. Auf seinem Rücken kniete ein Polizist und fesselte ihn auf die gleiche Art, wie ich gefesselt war. „Bei Anstachlung wird härter durchgegriffen und bestraft, als es das Tragen von Nazisymbolen und die Verbreitung faschistischen Gedankenguts nach sich zieht“, sagte der Polizist. Er hatte Probleme mit der Sturmmaske, bekam nur einen Sehschlitz vor die Augen. „Und wenn’s nach mir ginge, ich würde alle, die hier die Kacke am Dampfen halten, egal ob Rechte oder Linke, Chaoten oder Intellektuelle, ich würde sie ohne Rückfahrkarte nach Sibirien schicken.“
„Wohin nur hast du uns gebracht, mein Justus?“ Faust versuchte noch, am Kuchen zu knabbern, der unter ihm lag und mit einer Ecke bis an seinen Mund reichte.
„Wir sind in der bundesdeutschen Wirklichkeit“, sagte ich. „In einer Demokratie geht’s auf der Straße genauso selten demokratisch zu wie in einer Diktatur. Und wir, Vater, haben das Spiel noch nicht bis zum Ende durch.“
„Was lob ich mir die alten Zeiten“, sagte Faust. „Als ich den Wein noch aus dem Holze lockte und mit einem Gretchen unter Bäumen mich erging!“
„Papa!“, schrie ich Faust an. „Halt’s Maul, Papa! Lobe deine alten Zeiten, wenn sie dich wiederhaben und du sie wiederhast. Jetzt hol uns lieber deinen Teufel herbei! Denn wenn der’s nicht bringt, dann hilft uns nichts mehr aus der Scheiße.“
Jemand betastete mich von hinten, sagte zu einem andern: „Keine Papiere, Eberhard, tut mir leid.“
Und der andere, der mit Eberhard angesprochen worden war, sagte: „Ich war mal – und bin’s wieder – mit so ’ner Schlampe zusammen gewesen und die hatte einen Jungen bei sich rumlungern in der Wohnung … Naja. Halt ihm noch eine kleine Ewigkeit die Schnauze im Dreck und dann ab aufs Revier. Wenn ich was bezeugen muss, damit’s für ’ne Festnahme reicht, ruf mich an.“
Ich schloss die Augen. Eberhard war der Polizist, dessen Augen mir bekannt gewesen waren im Schlitz der Sturmmaske, und der auch mich erkannt hatte; und er war derjenige gewesen, der mich von meiner Mutter fortgetrieben hatte in die Anstalt meines Vaters. Eberhard war’s, der Scheißkerl von einem Bullen, und permanenter Brechreiz setzte ein, wenn man mit ihm Umgang hatte, der mir als erster aus meinem früheren Leben begegnete, und davor konnte man die Augen nur zumachen und durch.
Faust versuchte, mit mir zu sprechen, ich reagierte nicht. Zwei Passanten standen eine Weile neben uns. „Morgen früh kommt die Müllabfuhr, da werden sie die beiden mit entsorgen“, sagte einer. Und der andere sagte: „Der Alte ist ’n Penner und der Jungsche taugt nichts, so was hat keine Deponie verdient.“ „Wird nicht erst geschreddert?“, fragte der erste. „Nur verwertbare Abfälle“, antwortete der zweite. „So was wie die, kannste keinem Hund in ’ner Dose anbieten.“
Ich hörte meinen Vater stöhnen. Und ich dachte: Wo ist amnesty international? Wo seid ihr, Streiter für Menschenrechte und Menschenwürde? Wo seid ihr, Bürgerrechtler und Kommissäre zum Schutz der persönlichen Freiheit? Wo seid ihr, Medienleute aus der ersten Reihe, die ihr hautnah und brandheiß und unbestechlich vom Tagesgeschehen berichtet? Hier liegt die knalligste Nachricht auf der Straße und mit der Schnauze im Dreck: Faust und sein Sohn in Fesseln neben einem Haufen frischer Hundescheiße!
„Papa“, sagte ich. „Halt durch!“
„Ich friere“, sagte Faust. „In den nassen Klamotten ist’s wie im Eisschrank.“
Irgendjemand, der sich im Laufschritt näherte, verpasste mir einen Tritt in den Arsch, trat nach und lief dann weiter. Aber auch das war unbedeutend gegen die dumpfe, alles durchwuchernde Scham.
Aber dann ging’s ruckzuck. Ein Auto hielt hinter uns. Ich wurde gepackt, Faust wurde gepackt – dabei sah ich, wie ein Kampfstiefel in die Hundescheiße getreten wurde und diese sich ins Profil der Sohle einpresste und über deren Rand quoll – und wir wurden zu einem geschlossenen Transporter geschleift und in den Kastenaufbau verfrachtet, was ungebremst martialisch durchgezogen wurde. Die Trümmer der Gitarre wurden mir vom Rücken gerissen und auf die Straße geworfen. Die Bänke zu beiden Seiten waren schon dicht besetzt, aber mein Vater und ich wurden, einander gegenüber, dazwischen gepfercht. Das gab wieder Knüffe. Ich saß neben einem ultimativen Trash-Typen. Er duftete so herrlich nach Gras, dass Scham, Schmerzen und sonstige Bedrücktheiten auf Abflug machten. Jetzt einen Joint und das Leben und die Welt hätten mich wieder und ich würde nicht grollen über die unfreundlichen Attacken anlässlich meiner Rückkehr. Aber der Typ war so abwesend, dass es nicht lohnte, ihn anzuquatschen, dem war’s gleich und Bockwurst, wohin er unterwegs war.
Faust saß zwischen zwei Autonomen, beide mit Frisuren, die jedem Ureinwohner einen Schock fürs Leben verpasst hätten. Die übrigen waren von der braunen Suppe, sie schimpften auf die Bullenschweine, die wieder mal die Falschen gegriffen hatten, auf die Scheißpolitiker, die von den Realitäten so weit entfernt waren wie der Mond vom Urknall, und auf einen smarten Steffen, der ganz bestimmt der Maulwurf war, der’s verpfiffen hatte, und den sie anzünden würden demnächst!
„Maulwürfe pfeifen nicht“, sagte mein Vater. „Sie meinten ganz bestimmt eine Ratte.“
„Ey, Alter, halt dich da raus“, sagte der Rechte, der neben dem Trash-Typen saß.
„Ich meinte das der biologischen Korrektheit wegen.“ Faust nickt mir zu. „Und Maulwürfe pfeifen nun mal nicht.“
„Kennst du nicht den Unterschied zwischen Pfeifen und Verpfeifen?“, wurde Faust gefragt. Und er erhielt zur Antwort: „Pfeifen tun die Pfeifen und Verpfeifen tun die Maulwürfe.“
„Ja“, sagte Faust. „Und fettes Brot wächst auf der Wiese, die Eier wachsen in der Vorratskammer und die Störche kaufen die Kinder im Krämerladen ein.“
„Der Alte kapiert’s nicht!“ Es gelang dem Rechten links neben mir, trotz der Fußfessel, Faust vors Schienenbein zu treten. „Deine biologische Korrektheit taugt für keinen Kindergarten, Alter. Und wenn ich dir jetzt ein zweites Mal vors Schienenbein trete, dann nur der numerischen Korrektheit wegen, denn einmal ist, wie du wohl weißt, kein Mal.“ Er schwang die Unterschenkel weit nach hinten unter den Sitz, um kräftiger zustoßen zu können. Aber er brachte die Füße nicht wieder nach vorn. Dafür kreischte er ein lächerliches „Aua!“ und wand sich auf seinem Platz. Und es war ein Knurren unter der Bank zu hören, das mir wie’s lieblichste Klingen der Welt schien.
„Wenn du artig bist“, sagte Faust zu dem Mann, „dann sage ich dem Hund, er soll’s lassen, und es ist gut. Wenn du aber nicht artig bist, behält er sein Abendbrot im Maul.“
„Jetzt verhaften die Bullen schon Hunde“, sagte einer von den Autonomen. „Das gibt eine Meldung an den Tierschutz.“
„Bist du artig?“, fragte Faust noch einmal.
„Sag dem Köter, er soll’s lassen, du Schwein!“ Der Mann drückte sich ins Hohlkreuz vor Schmerz, wahrscheinlich hatte der Pudel sein Beißvermögen voll ausgereizt. „Aber auch wir haben Anwälte, so darf mit politischen Gegnern nicht umgegangen werden.“
„Brav“, sagte Faust. „Brav, mein Hund.“
Der schwarze Pudel kam unter der Bank hervor, setzte sich vor Faust und blickte dem Mann, den er gebissen hatte, in die Augen und grinste. Damit war Ruhe im Kasten. Nur eine Äußerung gab’s noch von einem andern Rechten. „Wenigstens ist’s kein Deutscher Schäferhund, der sich an unsereins vergreift. Und solch Vieh hat doch keine Rasse. Müssten wir ja gleich erledigen so was, wenn wir an der Macht sind. Und nicht nur Hunde. Wenn, dann richtig.“
Es war in einem Innenhof, wo wir aussteigen durften. Die Fußfessel wurde uns beim Aussteigen abgekniffen, die Handfessel nach Zuteilung in die Verhörzimmer. Hier gab’s keine Maskierungen, aber Eberhard entdeckte ich nicht. Da der Pudel sich bei all dem geduckt und still nahe Fausts Fuß hielt, wurde man erst auf ihn aufmerksam, als man uns gemeinsam vorführte.
„Was soll dieser Hund hier?“, fragte der Beamte. Er schien in dieser Situation und auch seit Jahren schon überfordert. „Hunde sind bei Befragungen nicht zugelassen.“
„Das ist mein Hund“, sagte Faust. „Er gehört mir.“
„Wer hat Ihnen erlaubt, ihn bei der Zuführung mitzuführen?“ Der Beamte musterte den Pudel, der brav neben Faust verharrte. „Außerdem ist in dieser Stadt Leinenzwang und von einer Steuermarke kann ich auch nichts entdecken.“
Aus der Verhörbox nebenan rief jemand: „ Frag ihn, ob er ein Hundekotentsorgungsset dabei hat. Und die Bestätigung für den bestandenen Wesenstest ist bei so ’ner Töle auch einzufordern.“
„Sie haben gehört, was mein Kollege gesagt hat?“
Faust wandte sich an mich: „Übersetze mir das. Das ist Chinesisch rückwärts für mich.“
„Für Hundehaltung gibt es Bestimmungen. Aber ich kenne mich da nicht aus. Für einen Hund musst du heutzutage Steuern zahlen wie für Grundbesitz oder ein Auto.“
„Legen Sie ihren Hund erstmal an die Leine“, sagte der Beamte.
„Ich habe keine Leine. Und wir brauchen keine Leine.“ Faust tätschelte den Pudel. „Der Hund versteht mich auf jedes Wort und pariert.“
„Heißt das, Sie lassen dieses Tier ständig frei rumlaufen?“
„Er ist nichts anderes als Freiheit gewöhnt“, antwortete Faust. „Es gab noch nie Probleme.“
„Stimmt nicht“, kam’s wieder aus der Verhörbox nebenan. „Die Töle hat während des Transports einem von den arischen Brüdern in den Fuß gebissen. Wir mussten eine ärztliche Versorgung anordnen. Also, Vorsicht. Und sei pingelig bei den Personalien, sonst bleiben wir auf der Rechnung sitzen.“
Daraufhin telefonierte der Beamte, was er sagte, hielt er absichtlich so leise, dass es nicht zu verstehen war. „Hören Sie“, versuchte ich es wieder, „das ist alles ein Missverständnis. Wir, mein Vater, der Hund und ich, sind zufällig zwischen die Fronten geraten. Wir haben keinerlei politische Ambitionen. Ob rechte Chaoten oder Linke, dazu gehören wir nicht. Und dass der Hund meines Vaters zugeschnappt hat, war ein Abwehrreflex. Mein Vater ist getreten worden. Hätte Ihr Hund Sie da nicht auch verteidigt?“
„Ich halte keinen Hund“, antwortete der Beamte. „Aber meine Frau leistet sich zwei Pferde.“
„Ihre Frau leistet sich zwei Pferde!“ Faust staunte so ehrlich, dass der Beamte es nicht ignorieren konnte und bestätigend nickte. „Dann gehört Ihr eine Grafschaft? Oder Sie hat ein einträgliches Lehen?“
„Sie ist im gehobenen Dienst tätig. Reiten, so sagt sie, bringt ihr die optimalsten Entspannungseffekte. So ein Tier so zu führen, dass es wie ohne eigenen Willen gehorcht, entschädigt sie für die vielen Leerläufe, Gegenläufe, Querläufe und Sonderläufe im Dienst, so sagt sie.“ Der Beamte atmete endlich. „Im Kontakt mit dem Tier ist sie glücklich, meine Frau, sagt sie.“
„Und im Kontakt mit dir ist sie’s nicht“, fragte ich.
Aus einer anderen Box wurde gerufen: „Glücklich ist, wer vergisst, dass wer Dienst hat, nicht zu Hause ist!“
„Meine Frau geht nicht fremd!“, rief der Beamte zurück. „Ich bringe jeden zur Anzeige, der das behauptet.“
Aus einer entfernteren Box wurde gerufen: „ Der dickschwanzige Adi betreut sie ja auch schon ein paar Monate, so fremd geht sie da nicht mehr.“
„Wer sagt das?“, rief der Beamte. Er sprang auf, stellte sich auf den Tisch, um in die anderen Boxen blicken zu können. „Wer sagt mir das in die Augen?“
Aber es blieb nebensächlich, ob’s ihm einer in die Augen sagen würde oder nicht, denn zwei Polizisten in Sturmmontur kamen in unsere Verhörbox und hatten, eh sich zu versehen war, dem schwarzen Pudel jeder eine Fangschlinge um den Hals gelegt und drückten ihn mit den Distanzstangen zu Boden.
Der schwarze Pudel machte das dümmste Gesicht, das je ein Hund gemacht hat, und rührte keine Pfote zur Gegenwehr.
„Was machen Sie?“ Faust ging die beiden Hundefänger an. „Was tun Sie meinem Hund an?“
Einer der beiden stieß Faust auf seinen Platz zurück. Der andere warnte: „Schön ruhig bleiben, Herrschaften! Wir haben die Ketten und den längeren Arm.“ Die beiden wollten den Pudel aus der Box ziehen, bewegten ihn aber keinen Zentimeter vom Fleck. „Füttern Sie den mit Blei?“, fragte einer Faust. „Der liegt ja so fest wie die Titanic auf’m Meeresgrund.“
„Er ist Freigänger und Selbstversorger“, sagte Faust. „Aber seine Lieblingsspeise sind … Was waren das noch für komische Exemplare, Justus? Du bist da besser informiert als ich!“
„Übereifrige Bullen in schusssicheren Westen“, antwortete ich. „Die Rückstände davon machen ihn schwer und seine Verdauung war noch nie die beste.“
Der Beamte konnte einen Lacher nicht unterdrücken. Und die beiden Hundefänger zerrten nun gewaltsamer an den Schlingen, um den Pudel zu bewegen. Aber da purzelten sie übereinander gegen die Pappwände der Box, verfingen sich in den nun leeren Schlingen und schlugen sich die Köpfe auf mit den um sie wirbelnden Distanzstangen. Der Hund war weg.
Stattdessen saß vor dem Tisch des Beamten ein in dunklen Zwirn gekleideter Herr, der die Beine übereinanderschlug und seine Krawatte lockerte. Er nickte dem Beamten zu und reichte ihm eine Visitenkarte. Den Hundefängern gab er ein Zeichen, dass sie sich zu entfernen hätten, sagte ihnen: „Einen Bericht dürfen Sie sich ersparen. Dieser treue Staatsdiener hier vor mir wird den Vorfall eigenverantwortlich verwalten.“ Er nahm dem Beamten die Visitenkarte wieder ab. Die Hundefänger verschwanden aus der Box, obwohl sie sich noch nicht vollständig aus den Schlingen freigemacht hatten.
„Doktor Phisto?“, stotterte der Beamte. „Ich verstehe nicht.“
„Das ist auch nicht nötig. Meinen Namen bitte ich, vollständig und richtig auszusprechen. Merken sie es sich: Doktor Cristo de me Phisto.“ Der Doktor Phisto nickte Faust und mir zuversichtlich zu. „Die beiden Männer“, sagte er zu dem Beamten, „sind Topleute meiner Abteilung. Mit ihrer saudummen Aktion hätten sie auffliegen können. Haben Sie sich denn nicht denken können, dass nur gut ausgebildete und der Sache treu ergebene Undercover-Kräfte in der Lage sind, einen Hund einzuschmuggeln!“
Das brachte den Beamten völlig von der Rolle, er stotterte: „Aber die Personalien …“
„Schreiben Sie“, befahl Doktor Phisto. „Faust und Sohn. Das genügt. Ich gehe davon aus, dass Ihre Vorgesetzten ein helleres Köpfchen haben als Sie. Sie haben doch Erfahrungen mit Personen, die im höheren Dienst ihre Anstellung haben!“ Doktor Phisto erhob sich. „Wie ist Ihr Name?“
Der Beamte zögerte, wusste nicht, wie er’s auf die Reihe bringen sollte.
„Na gut, vergessen wir’s!“ Doktor Phisto bedeutete Faust und mir, ihm zu folgen. „Wir sind alle nur Menschen und machen Fehler.“
„Aber der Hund“, stotterte der Beamte. „Auch ein Diensthund ist, entsprechend der Hundehalterpflicht – oder ist es ein Gesetz? –, zu beaufsichtigen und steht nicht außerhalb der Gesetze.“
„Oder ist es ein Gesetz!“ Doktor Phisto lachte mit all seiner Herzlichkeit. „Das Gesetz verpflichtet uns, Gefahren vom Volk und vom Staat abzuwenden. Aber das ist gelegentlich und zumeist überhaupt nicht mit den Möglichkeiten, die das Gesetz bietet, zu erreichen.“ Er umfasste Faust und mich mit einem Arm, schob uns aus der Box und sagte dem Beamten verabschiedend: „Beim nächsten Mal ein klein wenig mehr denken, wie wir in Pullach zu sagen pflegen.“
„Noch nie gehört, dass die in Pullach denken“, sagte der Beamte.
„Dann hast du was an den Ohren.“ Doktor Phisto winkte zum Abschied in Richtung der anderen Boxen. „Du solltest dir einen in die Gehörgänge blasen lassen. In diesem Sinne!“
Wir kamen ohne Behinderung aus dem Gebäude und durch den Innenhof. Auch der Schlagbaum der Personenschleuse ging wie auf Bestellung vor uns hoch, als wäre das alles, was uns passiert war, nur als Übung geplant gewesen. Und als der eiserne Balken hinter uns wieder in die Halterung klappte, gab’s kein Halten mehr für uns drei – wir lachten.
„Die alten Tricks sind doch noch immer die besten“, lachte Doktor Christo de me Phisto und umarmte Faust.
„Weil die Beamten noch immer statt Grütze Sägespäne im Brägen haben“, lachte Faust und gab sich ganz in die Umarmung. „Und was sagst du dazu, Justus? Ist der Hund nicht ein richtiger Teufelskerl?“
„Das war Comedy auf höchstem Niveau“, lachte ich. „O-Ton ab und Kamera drauf und der Kleinkunstpreis wäre uns sicher.“
„Trotzdem, für einen Moment sah es so aus, als würden sie dich abwürgen!“ Nun zog Faust Doktor Phisto an die Brust. „Mit so einem blöden Hundegesicht habe ich dich noch nie gesehen.“
„Ein bisschen Spaß muss sein!“ Christo de me Phisto strich über seinen Zwirn, als wäre tatsächlich Schmutz darauf. „Und nun war’s das! Wie weiter?“
Wir gingen vorbehaltlich der Nase nach. Und das hieß, wir stolperten die Bürgersteige rauf und runter und kamen auf keinen Plan. Nirgends ein Schild mit „Hier wirst du Superstar“, nirgends eine Tür, die sich für uns öffnete oder wo wir’s wagen mochten, anzuklopfen. Abend bald. Die Reklamen flimmerten. Und eine undeutbare Milde erhob sich und nahm der Fülle aller Dinge um uns herum viel von ihrer Bedrohlichkeit.
Schließlich sagte Doktor Phisto: „Als Hund tun mir vom Gelatsche die Pfoten nicht halb so weh, wie’s mir als Mensch die Füße tun.“ Und, hast du’s nicht gesehen, trabte der schwarze Pudel wieder zwischen mir und meinem Vater.
Er hätte drei Sekunden warten sollen. Denn da gab’s das Angebot des Lebens für uns. So jedenfalls verkündete es der Typ, ein Gigolo mit drei Tonnen Übergewicht, der vor uns aus einem Türbogen trat und uns eine Mappe aufblätterte, aus der wir uns die Girls à la carte auswählen durften. „Machen alles inklusive und zum best Preis“, sagte er. „Trinken, essen, whirling, dance, fucking. Und super fresh alle Girls. Und super diskret. Und super sexy. Das werden super night for you.”
“Die”, sagte Faust und schlug eine Hand zwischen die Blätter. „Die will ich sehen!“
Der Gigolo hielt ihm das Blatt hin. Es war eine dunkelhaarige, mollige Frau, die mit gespreizten Beinen auf einem Hocker saß und mit einer Hand ihr halb zu einem Rhombus rasiertes Schamhaar verdeckte. „Gutes Girl“, flötete er und brabbelte was in sein Headset. „Verry gutes Girl.“ Und mich fragte er: „Und was wollen du?“
Ich zerrte an Faust. „Was soll das, Papa? Begreifst du denn nicht?“
„Ahaha! Das ist Papa! Und das ist Sohn! Wollen beide zusammen gleiches Girl? Kein Problem.“ Er brabbelte wieder was ins Headset. „Walpurgia machen das.“
„Walpurgia!“ Faust nahm eine Haltung ein, als hätte er vor, einen Panzer umzurennen. „Walpurgia! Das ist ein Name für eine Tochter.“
„Kostet aber little bissel mehr“, sagte der Gigolo. „Aber immer noch best Preis.“
„Wir haben auch noch einen Hund“, sagte ich, fasste den schwarzen Pudel beim Nacken und zog ihn vor; konnte ja sein, dass der Typ uns noch nicht vollzählig wahrgenommen hatte. „Und der hat auch seine Ansprüche.“
Beim Gigolo zeigte das Wirkung, er verdrehte die Augen und knautschte die Lippen, als wär’s die bitterste Pille seines Lebens, dass er uns das Angebot unseres Lebens gemacht hatte. „Ein Hund! Dann doch Problem!“ Anscheinend wusste der Typ nicht, was er ins Headset sagen sollte. „Mit Tieren ist nicht Service. Und Walpurgia macht’s nicht. Ausgeschlossen.“
„Aber wir haben’s dem Hund versprochen“, sagte ich. „Wir sind ihm was Großes schuldig.“
„Ich will Walpurgia sehen!“ Faust machte einen Eindruck, als würde er durchdrehen. „Ich will sie!“
Die Tür, durch die der Gigolo zu uns auf die Straße getreten war, wurde geöffnet und Walpurgia trat einen Schritt hervor. Obwohl ihr Foto sicher vor einigen Jahren, wenn’s nicht Jahrzehnte her war, gemacht worden war, war sie noch nicht so ramponiert, dass sie nicht zu erkennen gewesen wäre. Sie schnippte eine Kippe auf die Straße und blickte mich und meinen Vater gewerbsmäßig an: herausfordernd, versprechend und mit dem sicheren Gespür dafür, an wen sie geraten war. „Oh Gott“, sagte sie. „Die beiden? Und das hätte ein so schöner Abend werden können!“
„Walpurgia“, sagte Faust. „Erkennst du mich, Walpurgia?“
„Besoffene nie vor Mitternacht“, sagte Walpurgia.
Der Gigolo wies auf den Pudel und sagte: „Sie wollen auch den Hund dabeihaben. Aber ich habe Ihnen schon gesagt, dass die Nummer bei dir nicht läuft.“
„Walpurgia?“, fragte Faust wieder. „In der Nacht auf dem Blocksberg! Das kannst du doch nicht vergessen haben!“
„Nun lass mal nach, Alter“, sagte Walpurgia. „Ich war auf so vielen Blocksbergen, auf’m ganzen Blocksgebirge war ich, und Nächte hatte ich da siebenundfünfzig Mal so viele wie Tage. Aber für dich, Alter, hab ich keinen Film im Kasten. Kapiert?“ Und mich fragte sie: „Der Hund ist sauber?“
Der schwarze Pudel knurrte so tief, als würde die Frage ihn ins Unterirdische drücken.
„Walpurgia!“ Der Gigolo kämpfte mit sich. „Das ist nicht unser Service. Und wenn’s rauskommt. Bei was mit Viechern, machen sie uns die Bude dicht.“
„Ist der Hund sauber, habe ich gefragt“, ging Walpurgia mich an.
„Er war noch nie sauberer“, antwortete ich.
Der Pudel grollte im tiefsten Bass.
„Fünftausend“, sagte Walpurgia. „Auf die Hand. Und das Ganze nicht länger als ’ne Stunde.“
„Walpurgia!“ Faust versuchte, Walpurgia zu umarmen. „Du hast gesagt, dass ich’s besser mache als Beelzebub, Satan und alle Fürsten der Finsternis zusammen. So was vergisst kein Mann.“
„Fünftausend“, wiederholte Walpurgia.
„Das läuft ohne mich.“ Der Gigolo tänzelte in die Tür zurück. „Das ist nicht mein Geschäft.“
„Ich muss Orkan entlohnen.“ Walpurgia hielt den Typen fest. „Ich steh bei ihm mit über drei Riesen in der Kreide. Er bringt nun mal das beste Dope. Komm! Lass mich mit dem Trio ins Klinikum! Was soll’s! Ich bin auch wieder mal gut zu dir. Und jeder kommt in seinem Leben mindestens einmal auf den Hund.“
„Aber nur, wenn die Kamera mitläuft.“ Der Typ kam wieder einen Schritt auf die Straße zurück. „Mit so was hat man im Netz eine gute Resonanz.“
Faust griff Walpurgia bei einem Arm, zog sie an sich, schnaufte: „Nach dir ging’s mit keiner andern mehr. Nach dir war ich nur noch ein Mann in den Worten. Für dich hätte ich mich verleugnet. Tiefer noch, als Leverkühn es tat für meinen Sohn. Du warst die wahre Hexe in meinem Leben.“ Er griff nun auch nach mir. „Sogar meinen Sohn hätte ich verleugnet für dich. Ja, du warst das schöne Böse. Und nicht einmal JWG – wer immer es will, hab ihn selig – hat’s durchschaut.“
Der Gigolo brabbelte hektisch was ins Headset. Walpurgia schlug auf Fausts Hand, die sie am Arm hielt. Der schwarze Pudel gähnte. Und ich fragte mich: Waren wir wirklich und tatsächlich und in echt und überhaupt fortgekommen aus dem Bann der Anstalt meines Vaters und der Worte? Oder streckte sich und reichte sein Reich doch so weit darüber hinaus, dass es kein Entkommen daraus geben konnte? War der Wahnsinn die natürliche Dominanz des Existenziellen und dominierte er derart, dass es uns, Faust, Mephisto (hier in seiner trans-zendenten Manifestation als schwarzer Pudel) und mich, vor der billigsten Absteige versammelte, um uns in die schofligste Nummer des 21. Jahrhunderts zu vermitteln? Musste der Weg zum Superstar für mich immer nur durch Niederungen, psychotische Zustände und fremdgesteuerte Läuterungen führen? Warum gab es immer wieder Situationen, wie jetzt auch, in denen neue Rechnungen aufgemacht wurden und alle Glocken auf Katastrophe tönten?
„Ihr habt ’ne Klatsche, ihr!“ Walpurgia kriegte ihren Arm nicht frei aus Fausts Griff. „Vater, Sohn und Töle, ihr seid pervers. Trotzdem, mein letztes Angebot. Viertausend! Und ihr habt eine Stunde, wie ihr’s wollt.“
„Nun also.“ Faust ließ Walpurgia los. „Nun war’s das Letzte also und keine von den Nächten kehrt zurück, keine von den Lieben bleibt im Stand und kein Himmel hat sein Licht für immer.“ Er ging zwischen mir und Walpurgia, die ihm eine deftige Kopfnuss verpasste. Der schwarze Pudel pisste neben der Tür an die Wand, bevor er Faust folgte.
„Was habt ihr hier eigentlich abgezogen?“, fragte mich der Gigolo.
„Keine Ahnung“, antwortete ich. „Du hast uns angequatscht. Das war’s.“
Walpurgia zuckte die Schultern. „Obwohl“, sagte sie und blickte mich an, als hätte sie mein Gewicht auf zehntel Gramm genau abzuschätzen, „der Hund machte einen guten Eindruck.“
Ich ließ Faust und den Pudel mit Abstand vor mir hergehen. Keiner von beiden blickte auch nur ein einziges Mal zurück, um zu sehen, was mit mir war. Denn dass ich nicht in Schwierigkeiten mit dem Typen und seinen Leuten, die er ganz sicher schon alarmiert hatte, geraten war, gehörte nicht zum Angebot des Jahrhunderts dazu. Wir mussten für die Nacht unterkommen. Und ich dachte, dass es das Beste sein würde, wenn Mephisto auch mich und Faust zu Artgenossen seiner aktuellen Daseinsform machte. Als drei Hunde würden wir eine Nacht in der Stadt problemloser überstehen als in dieser Besetzung. Ein Hund hat Möglichkeiten und Rechte auf ein Leben, von denen ein Mensch nur träumen kann. Als Hund gilt dir nur eine Regel: Fressen, was dir vor die Schnauze kommt, und rechtzeitig verpissen. Und kein Hund ist der Sprache ausgeliefert, ein stiller, verschwiegener Hund gilt als angenehm, wäre er als Mensch still und verschwiegen, begegnete man ihm mit Misstrauen und unterstellte ihm Hochmut oder lebensfremde Verrückungen. Als Hund, so dachte ich, wäre ich momentan meine aussichtsreichste Variante aufs Überleben, denn nur darum ging’s zu dieser Stunde. Und wohl deshalb auch geschah es: Ich sah vor mir, wie der Pudel sich setzte und dass, als er saß, Faust zu einem stattlichen Altdeutschen Schäferhund mutierte, der sich neben dem Pudel niederlegte. Beide Hunde blickten zu mir. Ich blickte zu ihnen. Die Farbigkeit der Szene war gewandelt und auch die Perspektive meiner Wahrnehmung war eine andere. Ich blickte aus Kniehöhe, denn auch ich war zu einem Hund gemacht. So schnell und unkompliziert werden Wünsche erfüllt, stellt man sie zum richtigen Zeitpunkt und an den richtigen Adressaten. Nur, dass ich eine stichelhaarige Promenadenmischung von mittlerem Format war, als die ich mich im Schaufenster eines Kellerladens erkannte, verstimmte mich. Und ich knurrte den Pudel und den Altdeutschen Schäferhund beleidigt an, als ich zu ihnen gelangte.
„Kein Gemecker“, sagte der Pudel. „Jeder trägt seinen hündischen Typus in sich. Ich konnte rassemäßig nichts für dich tun.“
„Ein klein wenig schäferhündischer hätte es trotzdem ausfallen dürfen“, meinte auch der Altdeutsche. „Und wenn’s nach dem Erbgut seiner Mutter entschieden worden wäre, hätte er einem Golden Retriever oder einem Afghanen ähneln müssen. So schämt man sich ja fast mit ihm.“
„Wäre ich ein Pudel, wenn meine hündische Variante nach dem Erbgut gestaltet wäre?“ Der Pudel posierte vor dem Altdeutschen und der Promenadenmischung. „Hätte ich dann schwarze Locken auf der Brust und gutmütige Augen?“
„Zumindest würdest du mehr einem Molosser gleichen und auf einem Hinterlauf hinken“, sagte der Altdeutsche.
„Und stinken würde er auch“, sagte ich.
„Der Dank der Undankbaren ist unermesslich in seiner Niedertracht“, sagte der Pudel und trabte voran. „Aber ich kann auch anders und ihr werdet es erfahren an eurem eigen Leib und euer eigen Seele.“
„Seine Drohungen haben schon ganze Völkerschaften erheitert“, sagte der Altdeutsche zu mir. Er lief dem Pudel nach und murmelte: „Wenn das in die Bücher kommt! O weh! O weh! Faust als Hund. Und sein Sohn als Köter. Und vorneweg Mephistopheles als Pudel. So sind sie unterwegs, weil sie in ihrer Urgestalt durch die Nacht nicht würden finden.“
Unser Finden durch die Nacht gestaltete sich zu Beginn schon spektakulär. Aus einer Kellernische, wo von den isolierten Heizungsrohren die Nachtkühle angenehm erwärmt wurde, vertrieb uns eine alteingesessene Hundegang. Der Rudelführer hatte eine deutliche Ähnlichkeit mit mir, war aber entschiedener in seinen natürlichen hündischen Anlagen. Er ging, als keiner von uns dreien auf sein Rollenspiel reagierte, das uns signalisierte, das Revier zu räumen, sofort zum Angriff über. Wir hatten schlicht kein Repertoire für solche tierischen Mätzchen. Und die Gang zögerte nicht, es ihrem Chef gleichzutun. In den Altdeutschen und in mich verbissen sie sich sehr heftig, nur unser dickes Fell bewahrte uns vor ernsthaften Verletzungen. Dennoch war, so scharfe Zähne an der Kehle zu spüren, kein Zuckerschlecken. In den Pudel wagte keiner einen Biss.
Wir mussten das Weite suchen und gelangten zu einem Platz, der zu drei Seiten bebaut war. Der mittlere Bau war der imposanteste. Fünf Säulen im Portal, zwischen denen sich drei hohe Eingangstüren befanden, dominierten die Front. „Staatstheater“ war in Goldrelief und mit zementenem Lorbeer umgeben darübergeschrieben. Der Bau links davon war insgesamt schlichter, aber durchaus dem Stil des Staatstheaters nachempfunden. Dies war das Kammertheater, so war’s über den doppelflügeligen Eingang in kleinerem Goldrelief geschrieben. Der Bau rechts war eindeutig von zweckbestimmter Architektur, war ohne jeden Schnörkel und der Zugang war eine gewöhnliche Kasernentür, über der in profaner Leuchtröhre, auf Provinzbahnhöfen waren die Toiletten auf vergleichbare Art gekennzeichnet, „Probebühne“ zu lesen war. Im Zentrum des Platzes stand ein Denkmal. Es wurde, denn es war Nacht geworden, von vier Strahlern angeleuchtet. Der steinerne Mann auf dem Sockel war in einer nachdenklichen Pose dargestellt, dennoch würde er, verpasste man ihm nur den rechten Schubs, diese Hoffnung und Befürchtung hatte der Künstler mit hineingearbeitet in sein Werk, sich aufmachen und davonziehen einer neuen Herausforderung entgegen. In hellerleuchteten Schaukästen war das Programm des Theaters ausgestellt. Für das Staatstheater hingen an zwei Masten Ankündigungen der morgigen Premiere. Und das war der Hammer, denn es wurde „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe gegeben, der Tragödie erster und zweiter Teil in modernisierter Fassung.
Der Altdeutsche Schäferhund saß davor, schüttelte den Kopf und sagte: „Immer wieder dieser JWG. Wenn ich einmal längst vermodert bin, wird er immer noch gespielt.“
„Ich bin auch dabei“, meldete sich der schwarze Pudel. „Und bedenke, mein Faust, JWG ist schon längst und länger vermodert.“
Und die stichelhaarige Promenadenmischung, die ich war, sagte: „Da steht in modernisierter Fassung! Und vielleicht ist das Moderne der Fassung, dass ihr beide gestrichen seid? Auch in der Kunst, inklusive Literatur und Dramatik, ist Vandalismus eine Bedingung für Erneuerung.“
„Sei nicht mein Feind, Justus!“ Der Altdeutsche schnappte nach mir. „Auch nicht in der Polemik und auch nicht nur aus Lust, dem Alten eins reinzuwürgen.“
„Und wenn wir gestrichen worden wären, wir hätten’s gespürt.“ Der schwarze Pudel stupste dem Altdeutschen die Nase in die Flanke. „Wer so eng verlebt und verschrieben ist miteinander, wie wir beide, da spürt’s der eine wie der andere, wenn uns Gewalt angetan wird.“
„Aber warum bin ich euch ein Feind, wenn ich’s Mögliche benenne?“ Ich tippelte um die beiden herum. „Vater? Warum erträgst du es nicht, wenn ich etwas anspreche, zugegeben, ich tu’s etwas robuster als du, das du selbst zuvor für dich geltend gemacht hast?“
„Justus! Du bist so vulgär radikal. Du bist ohne das Feingefühl eines Sohnes, der seinen Vater liebt.“ Der Altdeutsche kratzte mit der rechten Hinterpfote seine Backe. „Du entwertest mich, wenn du so sprichst. Und was für Tragödie wär’s denn noch, wenn ich gestrichen wäre? Ja. Und warum Tragödie überhaupt?“
„Johann Heinrich!“ Der schwarze Pudel leckte sein Brustfell. „Mit einem Lustspiel oder einer Komödie wär’s doch nicht zu spielen mit uns.“
„Aber Trauerspiel unter meinem Namen!“ Der Altdeutsche legte seinen Kopf zwischen die Vorderpfoten aufs Pflaster. „Ich kann mich an keine einzige Träne erinnern. Nicht im Leben, nicht im Spiel und in der Anstalt schon gar nicht.“
„Dass du dich nicht erinnern kannst, muss ja nicht heißen, dass es sie nicht gegeben hat.“ Die Promenadenmischung hielt sich auf Distanz zum Altdeutschen. „Jedes Gedächtnis ist von Interessen manipuliert. Tränen passen nicht in das Schema, das du von dir in dich vermittelst. Also blendest du sie aus, weil du meinst, so, ohne Tränen, der bessere Faust zu sein.“
„Halt die Schnauze, Justus!“, ranzte mich der Pudel an. „Wenn ihr beide so weitermacht mit euch, geht auch der letzte Millimeter Spaß, den ich mit euch habe, flöten.“
Der Altdeutsche blickte zum Schaukasten, in dem das Programm des Kammertheaters angekündigt wurde, und lachte. Er las vor: „Für unsere jungen Zuschauer! Der Teufel mit den drei goldenen Haaren! Täglich ab siebzehn Uhr, bis zum Ende des Monats.“
„Davon habe ich schon gehört.“ Der Pudel streckte sich und verbog sich dann in einen Katzenbuckel. „Meine Sippe wollte klagen. Insbesondere, weil das Andenken unserer Großmutter schändlichst verunglimpft wurde.“
„Das würde ich mir sehr, sehr gern angucken wollen“, sagte der Altdeutsche und leckte einmal links, einmal rechts um sein Maul. „Von deiner Großmutter, mein Mephisto, habe ich nämlich überhaupt keine Vorstellung. Ist sie die Großmutter mütterlicherseits oder väterlicherseits?“
„Ich habe euch schon viel zu viel von mir erzählt.“ Der Pudel deutete auf ein Schild neben dem Eingang. Es zeigte einen stilisierten Hund, der durchgestrichen war. „Für Hunde kein Zutritt heißt das“, sagte der Pudel. „Das ist bitter, Kameraden, aber auf das Schauspiel mit meiner Großmutter müssen wir verzichten.“
„Müssen wir nicht“, sagte ich, die Promenadenmischung. „Zum Beispiel dachte ich, vor ’ner Stunde vielleicht, dass durch die Nacht zu kommen, als Hund einfacher wäre, und schon waren’s mein Vater und ich. Warum soll’s umgekehrt nicht auch möglich sein?“
„Du warst das!“ Der Altdeutsche verzog die Lefzen zu einem Grinsen. Es stand ihm nicht gut.
„Nein“, sagte der Pudel, „ich war’s.“
Ein Windstoß riss ein Blatt, das neben dem Eingang zur Probebühne an ein Brett geheftet war, ab und trieb es uns, als wär’s von einem Zustellservice arrangiert, direkt vor die Pfoten. Darauf stand „Die allerneuesten Leiden des jungen W. / Ihr seid herzlichst eingeladen. / Ein Projekt der Freien Theatercompanie Rot-Blau.“ Über den unteren Rand war mit drei Ausrufezeichen vorn und drei Fragezeichen hinten „In Anwesenheit des jungen W.“ geschrieben.
„Der W. kann’s nicht lassen mit seinem Leiden!“ Der Pudel gähnte. „Der wievielte Aufguss ist das eigentlich schon?“
„Wie anstrengend“, sagte der Altdeutsche. „Leiden nach neuesten Ansprüchen und Erkenntnissen und stets auf hohem Niveau.“
„Der junge W. ist genau so ’ne Marke wie Coca Cola oder Greenpeace oder Faust.“ Die Promenadenmischung fühlte sich persönlich angesprochen, aber so, als hätte mich jemand an einer Stelle gekratzt, wo’s nicht juckte. „Er ist der puer aeternus vulgaris sozusagen. Ist ein Produkt und individuelle Kreation.“
„Wau“, sagte der Pudel. „Solch schlauen Hund lob ich mir.“
„Er spuckt doch nur aus, was ihm vorgekaut wurde.“ Der Altdeutsche streckte sich der Länge nach, es knackte schauderlich in seinen Knochen und Gelenken. „Wie heißt es? Ist der Vater dumm und die Mutter nicht klüger, wird auch der Sohn kein Überflieger.“
Und ich, die Promenadenmischung, hielt dagegen: „Wenn’s JWGeht in Faustens Kopf, packt er den Weimaraner noch beim Schopf und reimt und schleimt, bis unterm altem Schopf, die neue Grütze keimt.“
„Lasst es!“ Der Pudel machte auf verärgert. „Was fetzt ihr euch um anderer Leute Schleim! Mir reicht’s bald.“
„Nana, du schwarzer Pudel“, sagte der Altdeutsche. „Gefährlich wirst du erst im Rudel.“
Der Pudel stellte sich auf seine vier Pfoten. „Verschone mich mit deiner greisenhaften Muse, Faust. Dem JWG bist du es gram, aber selber übertriffst du ihn darin noch.“
Es schlich jemand heran, wir Hunde hatten die Witterung im Kollektiv. Ein gewichtiger Schemen. Er war vermummt bis unter die Nasenspitze, hatte eine Kapuze übergezogen. Er entdeckte die drei Hunde, die wir waren. Aber er hatte mit solchen Tieren offenbar noch keine schlechten Erfahrungen gemacht, denn es hielt ihn nicht davon ab, näher an die Werbetafeln der Tragödie erster und zweiter Teil zu schleichen. Nach dem er sich vergewissert hatte, nicht von Menschen beobachtet zu werden, zog er eine Spraydose aus seiner Kleidung und sprühte mit roter Farbe „Lüge“ über den Schriftzug „Faust“. Er ging zwei Schritte dazu auf Abstand, legte den Kopf zur Seite. Und dann umrahmte er „Lüge“ mit einem gleichfarbigen Oval.
„Der Kerl ist ein Nihilist“, knurrte der Altdeutsche. „Tragödie musst du streichen.“ Er trabte zu dem Sprayer. Der suchte sogar den finsteren Himmel ab, um zu entdecken, wer zu ihm gesprochen hatte; dass es der Hund gewesen war, der sich vor ihm auf die Hinterläufe stellte, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, zog er nicht ins Kalkül.
Und so sagte der Altdeutsche: „Die Tragödie ist die Lüge, nicht Faust.“
„Das ist ein Witz, oder?“ Der Sprayer wich vor dem Altdeutschen zurück. „Ihr wollt mich lächerlich machen, ihr Staatstheaterdiener, weil ihr mich mit Ablehnungen nicht kleinkriegt.“
Der Pudel war hinter den Sprayer gelaufen, sodass der, da er sich weiter nach hinten vom Altdeutschen wegbewegte, über ihn zu Boden stolperte. Er landete genau auf seinem Po und so blieb er. Der Pudel blieb hinter ihm, und der Altdeutsche setzte sich vor ihn. Und die Promenadenmischung ging auch dahin und setzte sich neben den Altdeutschen. Dem Sprayer war die Kapuze vom Kopf gerutscht, sein Gesicht war entblößt. Es war dicklich, bartlos. Der Schädel war bis auf eine Mittelscheitelbürste rasiert. Am Haaransatz war die Bürste schwarz gefärbt, die Spitzen gelb und dazwischen war’s Haar so rot wie die verwendete Farbe.
„Wenn noch einer von euch was sagt“, sagte der Sprayer, „unterschreibe ich freiwillig meine Einweisung in die Klapsmühle.“
„Ich kann mich nur wiederholen“, sagte der Altdeutsche. „Die Tragödie ist die Lüge, nicht Faust.“
Der Sprayer schleuderte die Spraydose gegen die mittlere Tür im Portal des Staatstheaters. Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.
„Und er muss es wissen“, sagte der Pudel. „Er ist der Einzige, dem in Sachen Faust keiner was vormachen kann.“
„Das ist ’n Hund“, stöhnte der Sprayer hinter seinen vorgehaltenen Händen. „Und nur, wenn er selber Faust wäre, könnte ihm keiner was vormachen.“
„Dann wird’s wohl so sein“, sagte die Promenadenmischung.
Der Sprayer zog seine Hände langsam von seinem Gesicht, es war so gänzlich ohne Ausdruck, wie in einer leeren Flasche kein Schluck mehr ist. „Du bist Faust?“, fragt er den Altdeutschen.
Der Altdeutsche nickte.
„Dann bist du?“, er wandte sich an Mephisto. „Mephistopheles?“
„Es blitzt in deiner Birne“, sagte der Pudel. „Du stehst im Stoff.“
„Und wer bist du?“, fragte mich der Sprayer.
„Ich bin misslungen, wie du siehst“, antwortete ich.
„Mein Sohn ist nicht misslungen“, knurrte der Altdeutsche. „Ich will das nicht noch einmal von dir hören, Justus!“
„Als Hund ist’s doch augenscheinlich!“ Ich tippelte einmal vor und einmal zurück, damit der Sprayer mich genauer betrachten konnte. „Und so viel Freude hast du als Vater auch nicht an mir.“
„Aber misslungen bist du trotzdem nicht“, beharrte der Altdeutsche. Er leckte dem Sprayer übers Gesicht und der nahm’s hin. „Ich weiß nicht warum, aber du gefällst mir trotzdem.“
Der Sprayer fasste den Altdeutschen hinter beide Ohren, zerrte ihn nach links, nach rechts, bis der sich energisch freimachte. „Tatsächlich ein echter Hund.“ Der Sprayer schlug die Knöchel beider Hände vor seine Stirn. „Wie funktioniert das? Wer hat euch trainiert? Das ist doch kein Zufall? Das ist – genau, das ist’s! – das Vorspiel der Tragödie dritter Teil. Ja. Ein Hund ist der wahre Faust der Zukunft. Ja. So muss es auf die Bühne. Und so wird’s von der Bühne sich Raum nehmen in der Gesellschaft. Ja. Ich werde verrückt.“ Der Sprayer legte sich aufs Pflaster, als würden alle Sonnen des Alls auf ihn scheinen. „Ja, ich möcht verrückt werden“, sagte er. „So viel Wahnsinn hält man sonst nicht aus.“ Er zog ein Handy aus der Brusttasche des Sweatshirts, wählte eine abgespeicherte Nummer. Bevor er eine Verbindung bekam, hob er den Kopf und ermahnte uns drei Hunde, die um ihn herum saßen. „Nicht abhauen, ihr Schwarmgeister! Die Nummer reize ich aus. Das ist die Chance, die aus Max Schiller den Supermax macht. – Max Schiller bin ich.“
„Und ich bin Justus Faust“, sagte die Promenadenmischung. „Und ich will Superstar werden.“
„Äh!“ Das drückte Max aufs Pflaster zurück. Die Fragezeichen und Ausrufezeichen, die in seinem Kopf waren, schwirrten vom Aufprall als oszillierende Spirale um seinen Kopf – so sahen’s wir Hunde. Aber dann bekam er die Verbindung. „Schnecke“, sagte er, „hier ist Mäx’l. Hör zu! Schnapp dir die Kamera und komm zum Theater. Hier läuft ein Ding, das kannst du dir nicht vorstellen. Wahnsinn hoch was weiß ich. Nein. Mich hat keiner geschnappt und ich bin so clean wie Aspirin. Beeil dich. Wir sind mit allem aus’m Schneider, wenn wir’s nicht verkacken. Mach schnell! Ja, Küss’l.“ Max steckte das Handy weg, jetzt erst betastete er einen Hinterkopf.
„Da wächst dir ein Ei“, sagte der Pudel.
„Was uns nicht umbringt, macht uns stark“, sagte Max.
„Und leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das Denkvermögen“, sagte der Altdeutsche. „Die Methodik zur Beförderung der Menschlichkeit hat seit der Steinzeit keinen innovativen Schub mehr erfahren. Die Jugend von heute und die Jugend von morgen krankt an den gleichen psychogenen Symptomen, sie besetzt die falschen Idole mit falschen Idealen. Und plötzlich kollabieren die Enkel an den avantgardistischen Neurosen der Ahnen.“
„Äh“, krächzte Max den Altdeutschen an. „Aus welchem Zauberbeutel seid ihr entflohen? Was ist das für ein Psycho-Mix? Ist das Hundeschule auf Survival-Art? Oder akademische Unverbindlichkeit hundsgerecht einstudiert und kindsgerecht vorgetragen?“
„Äh“, äffte der Pudel Max nach. „Was ist’s für Gemaxe, das du mit uns abziehst? Was mäxelst du hier vorm Staatstheater?“
Damit hatte der Pudel Max angestochen. Er sprang auf und hopste wie ein fettleibiges Rumpelstilzchen vorm Staatstheater herum und keiferte: „Ich – ich, Max Schiller – habe diesem Haus einen dritten Teil der Tragödie geschrieben. Ein Auftragswerk per Handschlag in der Kantine weit nach Mitternacht besiegelt. Ich habe in dem Haus fünf Jahre in den Kulissen malocht, habe sozusagen Theater von der Rückseite erlebt und gemacht. Aber egal, von welcher Seite man es sieht, Theater bleibt Theater, es ist ein Vormachen allein zu dem Zweck, damit die Leute, die die Zahlen bringen, ihre Patscherchen aneinanderschlagen. Und irgendwann dachte ich, das kannst du auch, Max Schiller, denen ’ne Spielvorlage liefern, das bringst du, einen Text, ein Stück, ein Schauspiel. Aber’s Können allein reicht nicht, man muss es besser können. Und als ich so weit war, dass ich dachte, dass ich’s besser könnte, habe ich’s denen gesagt, denen vom Staatstheater. Nach der Premiere von den Räubern von Schiller. Dem Intendanten habe ich’s gesagt. Ich habe genug Dreck gefressen vom Theater, habe ich ihm gesagt, jetzt will ich’s wissen, wie es ist, wenn man selber welchen macht. Und ich habe ihm was erzählt vom dritten Teil der Tragödie, worauf, wenn nicht die ganze Welt, so doch halb Deutschland drauf warten müsste. Denn das kann’s doch nicht gewesen sein mit unserm Faust, dass der sagt: Im Vorgefühl von solchem hohen Glück genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“
„Das habe ich nie gesagt.“ Der Altdeutsche schüttelte sich wie nach einem Bad. „JWG hat’s mir angedichtet, reimgetreu.“
„Ihr seid eine verflixt bedenkliche Bande.“ Max feixte und sein dickliches Gesicht verzog sich von einem Ohr bis zum andern. „Aber ich nehme euch so, wie ihr seid. Ist ja bekannt, dass in jedem Hund der bessere Herr steckt. Also habe ich mich hingesetzt und der Tragödie dritten Teil verfasst. Faust und Mephisto waren schon auf der ersten Seite erledigt, die standen jedem Wort verquer mit ihren literaturhistorischem Ballast, waren vernagelt und verkleistert mit Interpretationen, waren, als ich sie anrührte mit Worten, so monumentale Gestalten, dass ich sie hätte zertrümmern müssen, um sie ins Spiel bringen zu können. Und das brachte ich nicht. Auch, weil eine andere Figur wie von selbst in die Protagonistenrolle drängte. Der einzige Mann, der – dass er in vielen Passagen genauso schwafelte wie die beiden Großchargen der Tragödie, ist ihm nachzusehen angesichts seiner Leistung – etwas schuf, der auf sich vertraute, sich nicht versteckte hinter einem Faustschen Höllenzwang oder aus Furcht, draufzugehen bei seinen Experimenten, nicht im gefährlichen Bereich agierte. Wagner! Wagner ist der tatsächliche Pionier der Charade. Ich hatte, nachdem mir das bewusst geworden war, keine Chance einer Wahl. Wagner ist mein Held der Tragödie dritter Teil. Aber diese Hengste von der Intendanz und Dramaturgie und Oberspielleitung und Regie und Theaterbeirat und Schauspielerkomitee und Kultursenat haben’s mir um die Ohren gehauen. Wen interessiert Wagner, haben sie mich gefragt. Mit so kleinen Männern macht man kein großes Theater. Eine Wiedererstehung Fausts im dritten Teil der Tragödie, das wär’s gewesen! Dass er sich lossagt vom Bösen und vielleicht ein Mittel gegen Aids oder Sexsucht auf den Markt bringt? Oder dass er bin Laden fängt und den Terrorismus aufmischt? Oder dass ihm, und das nicht nur mit Appellen an die Vernunft, was gegen den Klimawandel einfällt, das die Wirtschaft akzeptiert. Wagner, Mäx’l, haben sie mir gesagt, ist ein Mann ohne Eventpotenzial. Wagner ist ein kaltes Eisen fürs Theater.“
„Wagner ist meine Frau“, sagte die Promenadenmischung. „Und wenn die ein kaltes Eisen ist, dann ist die Sonne Schnee und Asche.“
„’ne Schwulenehe!“ Max blickte zwischen meine Hinterläufe. „Das hätte mir einfallen sollen. Faust und Wagner miteinander im siebten Himmel. Die beiden treten vor den Altar, Mephisto traut sie und Gretchen und Helena geben die Trauzeugen. Das hätte mir einfallen müssen.“
Der klapprigste R5, den die Hauptstadt je gesehen hat, fuhr auf den Platz vorm Staatstheater. Und das war’s wohl, was Max davor bewahrte, dass der Pudel und der Altdeutsche sich auf ihn stürzten und ihm bewiesen, dass sie scharfe Zähne hatten. Am Steuer saß eine junge Frau, die, noch als sie fuhr, eine Kamera zum Fenster raus hielt und ihren Mäx’l und die Hunde, die um ihn herum waren, filmte.
„Halt drauf, Schnecke!“, rief Max ihr zu. „Halt drauf und Mikro an.“
Die Schnecke stieg aus. Der R5 verröchelte im Standgas. Und mir blieb die Luft weg und mir gingen die Puste aus und das Licht auch und ein vergessener Himmel voller Geigen stürzte ein über mir.
Die Schnecke war Aloa. Sie hatte etwas mehr Fleisch auf den Hüften als zu unserer Zeit, Sympathiespeck ihres Mäx’ls wegen, aber an ihrer Wirkung als Frau kratzte das nicht. Sie kam mit der Kamera im Anschlag auf uns zu, winkte Max.
„Nun sagt mal wieder was“, forderte Max uns Hunde auf. „Ihr seid nicht nur sprechende Hunde, sondern ihr habt auch noch was zu sagen. Los! Ton ab!“
„Ich halte die Schnauze“, sagte Mephisto.
„Und ich mache dazu auf geselliger Typ“, sagte Faust. „Sprechende Hunde schweigend. Das ist die wahre Sensation, Max!“
„Hast du’s?“, fragte Max seine Schnecke.
Die Schnecke nickte, hielt die Kamera weiter auf uns Hunde und gab Max einen flüchtigen Kuss auf eine Hälfte seines rasierten Schädels. „Das ist ’n Trick“, flüsterte sie ihm zu. „Und das hier vorm Theater. Irgendwer von den Gipsköpfen führt dich vor. Wir dürfen nicht drauf reinfallen.“
„Das sind Hunde aus Fleisch und Blut.“ Max schüttelte den Kopf, als glaube er seinen eigenen Worten nicht. „Und was sie von Faust sagen … Oh, Schnecke.“ Er klammerte Aloa an sich. „Sag mir, dass ich nicht verrückt bin. Sag mir, dass es nicht wieder losgeht und ich in die Therapie muss und ich der Tragödie dritten Teil leben muss bis ins Blut der Steine und dass ich stehle die Herzen aus den Dingen und der Geschmack des Todes mich lockt unbarmherzig.“
„Du bist nicht verrückt, das sage ich dir“, sagte Aloa. „Wenn hier was verrückt ist, dann sind’s die Hunde.“
Der Pudel sah mich an und ich dachte: Ein verrückter Hund! Nein. Das will ich nicht sein. Das ist als Mensch schon über alle Verantwortung, verrückt zu sein, und als Hund treibt’s einen noch hinters Wölfische zurück. Ein verrückter Hund kann den Wahnsinn nicht genießen, es entfesselt ihn nicht von seiner Natur, sondern er wird ihr auf entmündigende Weise unterworfen. Und das vor Aloa! Nein.
Und wieder war’s kaum gedacht, da war’s vollbracht.
Aloa fiel vor Überraschung die Kamera aus der Hand, als sie mich, Faust und Mephisto in unserer Urgestalt sah. Max nahm die Kamera schnell wieder auf, schwenkte sie von einem zum andern, sagte: „Das war die Introduktion des transformatorischen Vermögens von Kunstgestalt und evolutionärer Dominanz. Was wir soeben erleben durften, ist der Beweis für die transzendente Macht wortgewaltigen Establishments. Wir sahen drei Hunde unterschiedlichster Rasse und haben nun drei Männer, die ihre Provenienz selbst vorstellen werden.“ Er zielte mit der Kamera auf Faust. „Bitte stellen Sie sich vor! Sie sind?“
„Ich bin Johann Heinrich Faust“, sagte mein Vater. Er rückte näher zu mir. „Und das ist mein Sohn Justus.“
„Justus“, hauchte Aloa. „Du bist’s. Ja. Was machst du? Warum willst du’s noch mal anfangen mit uns? Warum dieser Zirkus?“
„Ich bin Doktor Christo de me Phisto“, sagte Mephisto. „Ich vertrete Doktor Faust und seinen Sohn anwaltlich wie in freundschaftlicher Verbundenheit.“
„Du kennst den?“, fragte Max seine Aloa „Du kennst Fausts Sohn?“
„Er hat mich entjungfert“, sagte Aloa und schlug Max die Kamera aus der Hand. Sie fiel aufs Pflaster, ein Teil splitterte ab. „Er war meine erste große Liebe.“
„Die Welt ist Mäusedreck und Würfelspeck“, sagte Mephisto.
Und ich sagte. „Davon weiß ich nichts. Aloa. Davon habe ich nichts bemerkt. Ja. Es war was Großes mit uns. Ja. Aber du hast es nicht länger gewollt.“
„Die Welt ist Hinkepott und Seelenschrott“, sagte Faust.
„Die Welt ist ungerecht“, sagte Max. Er hob die Kamera auf, drückte das abgesplitterte Teil wieder fest. Und er blickte ins Recorderdisplay und jubelte: „Es ist nichts verloren, Schnecke. Wir haben’s. Du hast es drauf. Ich kann es sehen. Es passiert nichts mit den Hunden. Sie verformen sich nicht, sie verlieren kein Fell, sie leiden nicht. Sie können einmal Hunde sein und einmal sind sie Menschen, wie sie’s bedürfen verwandeln sie sich. Das ist’s.“
„Max“, sagte Aloa. „Die erste große Liebe vergisst man nicht, das weißt auch du.“
Max bekümmerte Aloas Bedrückung nicht. Er hatte wieder sein Handy zur Hand. „Ich muss Fletscher rankriegen, der hat die Connections.“
„Max!“ Aloa trat näher zu mir. „Ich habe was mit Justus zu bereden. Unter vier Augen.“
„Ich bin verheiratet, Aloa“, sagte ich. „Und mein Vater ist auch hier.“
„Hab ich schon kapiert.“ Aloa war so, wie’s früher auch mit ihr gewesen war, mit einem Wort auf hundertachtzig.
„Und seine Frau ist schwanger“, sagte Faust.
„Wagner ist schwanger?“, fragte Max. „Dann wird’s apart.“
„Warum soll seine Frau nicht schwanger sein!“ Aloa schlug wieder nach der Kamera. Aber Max kannte ihre Macken auch, war darauf eingestellt und der Schlag wurde kein Treffer. „Justus bringt’s eben. Was man nicht von jedem sagen kann.“
„Ich bin ein Intellektueller“, konterte Max. „Die organisieren sich die Hormone nach Bedarf und nicht nach Lust und Laune.“ Er hatte die Verbindung mit Fletscher und sagte: „Fletscher? Hier ist Max. – Was heißt, welcher Max? – Genau, der Max. Du, ich hab was aufgerissen, das ist granatenmäßig. Wenn wir das richtig zum Kochen bringen, haben wir ausgesorgt. Hier stehen drei Typen vor mir, du, das glaubst du nicht … Hallo! Fletscher? Hallo!“ Die Verbindung wurde beendet. „Scheiße“, sagte Max. „Der hängt bestimmt irgendwo in Moskau auf einer Hochzeit ab und kämpft sich von Funkloch zu Funkloch. Fletscher ist einer der wichtigsten Leute auf dem Medienmarkt.“
„Und deshalb weiß er, dass alles, was du bisher granatenmäßig aufgerissen hast, Rohrkrepierer waren.“ Aloa ging zum R5, bedeutete mir, ihr zu folgen. „Komm, Justus! Ich habe eine Frage, die nur uns beide angeht.“
Wir setzten uns nach vorn in den R5. Wir sahen, wie Max, Faust und Mephisto auf das Display der Kamera hinwies und wie die beiden ihm etwas zu erklären versuchten, das er aber auf Anhieb nicht begriff. „Du darfst nicht denken, dass ich Max liebe“, sagte Aloa. „Ich hatte keine gute Zeit nach der Zeit mit dir. Und er war da. Und er – so, wie du ihn jetzt erlebst, glaubst du’s sicher nicht – bringt mich zum Lachen. Es gibt mit ihm so unbeschwerte Momente, da kann ich vergessen, wie weh das Leben tut. Max ist der geborene Komödiant, ein Leichtmacher, auch bei vollem Ernst hat er die Lacher auf seiner Seite, weil er es ernst meint damit, kein Spaßvogel sein zu wollen. Bei Max hatte ich Luft.“
„Du hattest eine Frage“, sagte ich.
Aloa schaltete für einen Wisch den Scheibenwischer ein. Die Blätter strichen knirschend über das trockene Glas. Max rief: „Wir kommen gleich.“ Und Aloa sagte. „Als wir zusammen waren. Damals. Ich hatte bei allem, was mit uns war, das Gefühl, dass du deine Mutter in mir finden wolltest. Ob mit deinem Schwanz, mit deinen Fingern, mit deiner Zunge, du warst in mir auf der Suche, nein, du warst in mir auf der Jagd nach deiner Mutter. So habe ich es empfunden. Und das wollte ich dich fragen: Habe ich recht damit?“
„Das hast du empfunden?“ Auch ich ließ den Scheibenwischer einmal arbeiten; es war ein Augenblick, in dem auseinanderfiel, was die Welt zusammenhält, unsere Übereinkunft mit den Dingen, dass sie uns unser Verlorensein in der Allmächtigkeit der Teile und Teilchen nicht aufrechnen, wenn’s denn sein muss einmal – und einmal muss es sein –, als Scherz. „Meine Mutter war das Problem mit uns?“
„Vielleicht hätte ich es dir sagen sollen, dass du oft, wenn es am höchsten war mit uns, nach ihr gerufen hast.“ Aloa strich über meine Hand, die völlig absichtslos auf dem Griff der Handbremse ruhte. „Mama! Mama hast du gerufen. Komm doch, Mama!“
„Ich habe keine Erinnerung. Das musst du mir glauben.“
„Ich muss gar nichts.“ Aloa drückte die Hupe. „Und glauben muss ich schon gargar nichts.“
„Wir kommen gleich!“, rief Max wieder. Es schien, als wolle es ihm nicht gelingen, Faust und Mephisto zu überreden, in den R5 zu steigen.
„Und von dieser Nummer, die du mit den beiden Typen vor Max abziehst, glaube ich gargargar nichts und noch mal nichts.“ Aloa lachte. „Drei Straßenköter beißen sich durch ein Stück Weltliteratur und Max Schiller, der Hummeltreiber – das ist sein Spitzname, weil er ständig was am Summen hat, aber nichts zum Brummen bringt –, reißt sie auf, sie springen aus’m Pelz und so weiter. Wo ist der Sinn von all dem, Justus? Was ist der Sinn, dass wir beide uns wiedersehen?“
„Ich“, sagte ich und wusste eigentlich nicht, was ich zu sagen hatte, „ich hatte es nicht leicht, nachdem du mit uns Schluss gemacht hattest.“
„Der Sinn, Justus?“ Aloa presste ihre Hände ineinander. „Es quält uns doch wieder. Und was für einen Sinn macht es, dass wir zulassen, dass es uns so quält?“
„Fahr!“, sagte ich.
„Was sagst du?“, fragte Aloa.
„Fahr los!“, rief ich. „Fahre die drei da vor uns über den Haufen! Fahre jeden zu Klump, der sich uns in den Weg stellt. Fahr, wenn’s diese Karre noch macht. Aber fahr!“
„Was willst du wirklich, Justus Faust?“
„Das will ich!“, rief ich wieder.
„Aber du hast eine Frau.“ Aloa berührte den Zündschlüssel. „Und der Alte da vorn ist dein Vater. Und mit dem, was ihr vorhabt, wird’s dann nichts mehr werden.“
„Wir müssen hier weg.“
„Wie ist deine Frau?“ Aloa bewegte den Schlüssel im Zündschloss. „Du liebst sie doch. Nach dem Kauderwelsch, was Max dazu gesagt hat, kann ich mir kein Bild machen.“
Ich war außerstande, Aloa etwas über Marie Anne zu sagen.
„Kennst du sie schon lange? Wo ist sie jetzt? Lebt ihr zusammen?“
Wie erklärt’s sich, dass man und wie man einen Teil seiner Zeit im Reich seines Vaters verbrachte, stets wandelnd auf der Grenze zwischen Leere und Nichts, in Gesellschaft abstrusester Gestalten und im Bann der Krümmungen und in sich zurückgeführter Perspektiven? Wie beschreibt man’s Verbrauchtsein in einem Kopf, dessen kosmische Dimensionen ausschließlich auf einem Blatt Papier und außerhalb jeder geometrischen Gesetzlichkeit darstellbar sind? Wie beantwortet man die Frage nach seiner Frau, wenn man, außer zu wissen, dass sie Marie Anne heißt, keine Erinnerung an sie hat? Wie kann aus und von einem Raum berichtet werden, dessen existenzielle Grundbedingung es ist, mit Erinnerungen nicht belastet zu werden? Indem Erinnerungen nicht möglich werden, weil alles darin Jetzt ist und Jetzt bleibt?
„Meine Frau heißt Marie Anne“, sagte ich. „Sie hat eine lange Geschichte.“
„Toll“, sagte Aloa. „Wer hat heutzutage noch eine Geschichte? Verbrecher und Schauspieler.“
„Warum fährst du nicht?“, fragte ich.
„Das Benzin reicht bis in die Brüderstraße, wo wir wohnen, und dann noch, wenn wir Glück haben, bis zur nächsten Tanke. Und Geld habe ich nicht einstecken.“
„Vernunft ist scheiße? Oder?“
„Es ist nicht Vernunft.“ Aloa drückte wieder die Hupe und startete den Motor. „Wenn’s nur Vernunft wäre, könnte man dagegen ankommen. Es ist das Machtwort der Freiheit, sich einer entfreiten Freiheit zu verweigern.“
„Also doch Vernunft“, sagte ich.
Max, Faust und Mephisto kamen nun im Laufschritt zum R5. Max wollte partout vorn neben Aloa sitzen, sodass ich mich auf die Rückbank zwischen meinen Vater und Mephisto zwängen musste.
Bevor Aloa losfuhr, sagte Faust: „Ich vertraue dir, Max Schiller, du hast mich überzeugt.“
Und Max sagte: „Zwischen Tragödie und Komödie gibt es einen schauspielerischen Akt, der ausschließlich mit sich selbst befasst ist, den Autor. Schauspielerischer Akt deshalb, weil jeder Autor das Schauspiel einer zwischen Tragödie und Komödie vagabundierenden Existenz bietet.“
„Das liebe ich so an dir, Max“, sagte Aloa und fuhr los. „Dass du immer wieder Typen anschleppst, die dir den schärfsten Blödsinn als höchsten Tiefsinn verkaufen.“
„Ich verkaufe nichts“, sagte Mephisto.
„Und ich verkaufe auch nichts“, sagte Faust.
„Aber ich werde euern Justus verkaufen“, sagte Max. „Schon seine Geschichte hat, wie ihr beide sie mir in Kürze erzählt habt, ohne dass er Superstar werden muss, Bestsellerpotenzial.“ Er wendete sich zu Aloa. „Du kommst nicht drauf, wer die Mutter von dem Burschen ist?“
„Helena ist seine Mutter“, sagte Aloa. „Aber du hast mir vorhin wieder einmal nicht zugehört, sonst hättest du nicht gefragt.“
„Klar hab ich dir zugehört, Schnecke. Mit dem hattest du dein erstes Mal. Aber hier geht’s nicht um euern Kinderschmus! Ab jetzt geht’s um Moos.“
Aloa drehte sich zu mir um. „Verzeih mir, dass ich nicht gefahren bin, als du’s wolltest“, sagte sie. „Aber Freiheit ist genauso scheiße wie Vernunft.“
Der R5 holperte, klapperte und ratterte über die Straßen. Max hatte sein iPhone zur Hand, zog sich Informationen aus dem Netz. Mephisto pfiff vor sich hin. Und mein Vater sagte, nachdem er lange Aloas Rücken betrachtet hatte: „Der Nacken einer Frau ist der Steckbrief zu ihrer Leidenschaftlichkeit. Sage ich dir da was Neues, Justus?“
Ich ignorierte die Frage. Aber ich versuchte, mir den Nacken meiner Frau vorzustellen. Es gelang mir nicht. Jedenfalls nicht so, dass ich’s gelten lassen konnte. Was sich mir als Bild erstellte, war das Hintere eines kurzen, faltigen Halses, auf dem der Haaransatz vom Alter ausgedünnt war und wodurch sich keine Leidenschaftlichkeit vermittelte. Und das Bild eines andern Nackens, der schlank und gespannt war und aus dem blondes, im Ansatz rötliches Haar aus der Mittellinie in lockiger Symmetrie spross und sich wie ein Versprechen auf Leidenschaft ins Kopfhaar verwuselte, kam auf und schob sich in meinen Blick auf Aloas noch immer kindlich zarten Nacken. Und dieses Bild zeigte mir den Nacken meiner Mutter, eine Region ihres Körpers, die ich einst mit ebenso abenteuerlichen Phantasien wie rastloser Faszination besetzt hatte. Und mich schauderte vor meinen banalen Ungeheuerlichkeiten.