Das Talent des Versagers

Predigt vom 13. August 2006 im "Kontorkeller am Markt"

Text: Matthäus 25, 14-30

14 Ein Mann wollte in die Fremde ziehen. Da ließ er seine Knechte kommen und übergab ihnen sein Vermögen.
15 Dem einen gab er fünf Talente, dem andern zwei und einem dritten eines, nach seinen Fähigkeiten einem jeden. Dann reiste er ab.
16 Der fünf Talente erhalten hatte, ging sogleich hin, trieb damit Handel und gewann noch fünf weitere dazu.
17 Auch der mit seinen zwei gewann noch zwei andre dazu.
18 Der aber, der nur das eine empfangen hatte, ging hin und vergrub das Geld seines Herrn im Boden.
19 Nach langer Zeit kam der Herr jener Knechte zurück und hielt mit ihnen Abrechnung.
20 Der mit den fünf Talenten kam herein und brachte noch fünf weitere Talente mit. Er sprach: 'Herr, fünf Talente hast du mir übergeben, sieh, weitere fünf habe ich dazu gewonnen.'
21 Da sprach sein Herr zu ihm: 'Recht so, du guter und getreuer Knecht! In wenigem bist du getreu gewesen, ich will dich über vieles setzen; gehe ein in die Freude deines Herrn!'
22 Da trat der mit den zwei Talenten ein. Er sprach: 'Herr, zwei Talente hast du mir übergeben, sieh, weitere zwei habe ich dazu gewonnen.'
23 Da sprach sein Herr zu ihm: 'Recht so, du guter und getreuer Knecht! In wenigem bist du getreu gewesen, ich will dich über vieles setzen; gehe ein in die Freude deines Herrn!'
24 Endlich kam auch der, der ein Talent erhalten hatte. Er sprach: 'Herr, ich kenne dich: Du bist ein harter Mann; du erntest, wo du nicht gesät hast, wo du nichts eingesetzt hast, willst du gewinnen.
25 Ich hatte Angst, ging hin und vergrub dein Talent im Boden; sieh, hier hast du wiederum, was dir gehört.'
26 Da sprach sein Herr zu ihm: 'Du böser und fauler Knecht! Du wußtest, daß ich ernte, wo ich nicht gesät, gewinnen will, wo ich nichts eingesetzt habe?
27 Da hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, dann h?tte ich nach meiner Rückkehr das Meinige mit Zinsen wiederum bekommen.
28 So nehmt ihm das Talent und gebt es dem, der zehn hat.
29 Denn jedem, der hat, wird gegeben werden, und er wird im Überfluß haben. Doch wer nichts hat, dem wird auch das, was er besitzt, genommen werden.
30 Den nichtsnutzigen Knecht aber werft in die Finsternis hinaus; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.

 

Ihr Lieben,

manchmal muss man bei einer Geschichte einfach paar trockene Fakten dazu liefern, um Missverständnisse zu vermeiden. Wir reden heute von Talenten ja im Sinne von besonderen Fähigkeiten, die ein Mensch hat, Möglichkeiten, die ihn von anderen unterscheiden, Dingen, die er besser kann als andere. Eigentlich ist aber ein Talent ein altes Gewichtsmaß und entspricht etwa 34 Kilogramm, bezogen auf Geld meint das 34 Kilo Silber. Das ist eine reichlich abstrakte Größe, also hab ich mal versucht, das in heutige Werte umzurechnen. Ein Talent war ungefähr so viel Geld, was ein einfacher Arbeiter in 20 Jahren verdiente.

Umgerechnet auf die heute in der Debatte um Mindestlöhne verlangte Bezahlung (7,50/Stunde in Deutschland) würde man sagen: Der Herr vertraute dem ersten seiner Knechte über drei Millionen Euro an, dem zweiten immer noch 1,5 Millionen, während der dritte um die 300.000 Euro anvertraut bekam. Jederbekam ne Menge Kohle, die ausreicht, um damit ein Geschäft aufzubauen. Jeder bekam ein ausreichendes Startkapital für sein Leben.

Jesus hatte ein besonderes Gespür dafür, in den Menschen, auf die er damals in Israel stieß, ihre Gaben und Begabungen anzusprechen. Er ermutigte, ermahnte und provozierte; wollte das Leben seiner Zuhörer verändern. Und damit ihn die Leute verstanden, suchte er immer verschiedene Varianten, seine Botschaft an den Mann zu bringen.
Um zu erklären, wie sich das mit dem Reich Gottes verhält, wählt Jesus hier einen Vergleich. Er erzält eine Geschichte, die gar nicht religiös ist. Mit dem Himmelreich ist es, wie mit einem Menschen, der außer Landes ging … Es ist ein Gleichnis, eine Form der Illustration. Ein Gleichnis kann man nicht eins zu eins umsetzen. Man kann es nicht Punkt für Punkt erklären. Man muß die erzählte Geschichte als Ganzes nehmen und dann fragen: Wo ist der springende Punkt, auf den es Jesus ankommt? Was will er damit zum Ausdruck bringen, was will er sagen?

Das ist – glaube ich – der Hauptpunkt: Gott verteilt sein Vermögen an die Menschen. Jeder von uns hat bestimmte Gaben mitbekommen. Keiner geht bei ihm leer aus, keiner ist ohne Chance. Doch: Es ist Gott nicht egal, was wir aus unserem Leben und unseren Möglichkeiten machen. Wir sollen was aus unserem Leben machen.

So weit so einfach – oder doch nicht? Wie soll etwa ein Mensch seine Gaben, seine Begabungen, seine Talente entdecken, wenn er nicht gefördert wird? Und was ist mit den Menschen, deren Talente brach liegen, weil die Betroffenen Minderwertigkeitskomplexe oder auch Versagensängste entwickelt haben. Sind die Menschen wirklich reif für die Finsternis?

Ich weiß nicht, ob Ihr den Film „Good Will Hunting" mit Robin Williams und Matt Damon kennt. Will gehört zu einer Clique junger Männer, die sich ihr Geld auf dem Bau verdienen, gerne Bier in den Kneipen trinken und auch keiner Schlägerei aus dem Wege gehen. Daneben ist er noch Reinigungskraft an einer Highschool. Dabei hätte er ohne weiteres das Zeug zu wesentlich mehr. Er löst nämlich in aller Heimlichkeit die kompliziertesten mathematischen Probleme, die ein Mathematikprofessor auf dem Flur an eine Tafel schreibt: ellenlange Gleichungen und Formeln, von denen er sich durch seine Studenten (oder einem/einer unter ihnen) eine Lösung erhofft. Eine solche Intelligenzbestie würde er umgehend in besonderer Weise fördern und für einen Preis vorschlagen.

Und siehe da: am nächsten Tag steht die Lösung an der Tafel; der Prof beruft eine Studentenvollversammlung im größten Lehrsaal ein. Er möchte, dass sich derjenige oder diejenige zu erkennen gibt. Aber er stößt auf beharrliches Schweigen. Niemand von den Anwesenden hat das mathematische Wunder vollbracht! Erst später wird der Hochbegabte mit Hilfe der Verwaltung identifiziert: Will löst die abstrakten Aufgaben gleichsam en passant, indem er z.B. während seiner Putzarbeiten das Problem notiert und daheim löst, um am folgenden Tag bereits den Professor mit der Lösung zu beglücken. Der möchte ihn natürlich sofort unter seine Fittiche nehmen; aber da stellt sich ein Riesenproblem: Will ist wieder straffällig geworden und hatte nun beim Richter ausgespielt. Nur wenn er sich wegen seiner Gewalttätigkeit in Behandlung begibt und aus dieser als gesellschaftsfähig entlassen würde, kommt er um eine Haft herum.

Will lößt einige Psychiater und Therapeuten völlig auflaufen, entlarvt sogar deren eigene Schwächen, bis er schließlich bei einem Freund des Matheprofessors landet. Die erste Begegnung verläuft ähnlich wie die mit anderen „Seelendoktoren"; es trifft den Psychiater hart: Will deckt seine Vergangenheit auf, indem er anhand eines von diesem gemalten Bildes nachweist, dass der Therapeut den Tod seiner Frau noch nicht verarbeitet hat. Die Behandlung scheint, gerade erst begonnen, ihr abruptes Ende zu finden.
Doch im Laufe der nächsten Sitzungen entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis, hauptsächlich durch gegenseitige Offenheit, aber auch durch klare Direktiven seitens des Therapeuten.

Inzwischen versuchen auch seine Freunde, ihn zum Umdenken zu bewegen. Sein bester Kumpel aus der Clique sagt ihm eines Tages ins Gesicht: „Will, ich werde Dir die Visage polieren!" – Will ist natürlich entsetzt; sein bester Freund … – „Doch! Ich sage Dir auch, warum. Weißt Du, wir arbeiten hart; machen uns die Knochen kaputt auf dem Bau, und das ist in Ordnung so. Denn wir können nichts anderes; aber DU hast ‚sechs Richtige' in der Tasche und machst nichts draus! Warum gibst Du Dir nicht ein wenig Mühe und ergreifst die Hilfe und die Chance, die man Dir anbietet? Mensch, wenn wir eine solche Begabung hätten … – Ich warte seit langem darauf, dass Du morgens nicht mehr da bist, wenn ich Dich abholen komme. Dann würde ich nämlich sagen: Gut so, Will hat's kapiert! Und ich wäre, wir wären alle verdammt stolz auf Dich."

Der Schluß ist ein Happyend, auch wenn manches für den Zuschauer offen bleibt: Will kündigt eine Arbeitsstelle, die er noch angenommen hatte; er reist einer Studentin nach, um die Liebe und das Leben – wie es wirklich ist – kennenzulernen. Ob er auch noch studiert, ob er eine andere Stelle annehmen wird, das bleibt offen …

Ihr Lieben, „GOOD WILL HUNTING" ist wirklich empfehlenswert – nicht nur, weil er in ganz eigener Art und Weise unseren Bibeltext illustriert. Da versteckt einer seine Begabung, vergräbt sie, weil es so einfacher zu leben geht – und weil er eigentlich kaum was vom Leben erwartet, was über die Arbeit, das Bier und eventuelle Schlägereien hinaus geht. Doch er bekommt die Kurve, weil er irgendwann einfach Hilfe anzunehmen lernte.

Warum vergräbt jemand sein Talent und macht sp?ter noch dem, der ihm nur Gutes will, noch Vorwürfe? Das ist der Teil des Gleichnisses, der am ärgerlichsten ist, der mich immer wieder – auch wegen Gottes Reaktion – abstößt. Und damit ist für mich auch klar: für mich und mein Leben ist das der Knackpunkt der Geschichte.

Häufig kann man in Predigten oder theologischen Abhandlungen lesen, dass der Typ einfach nur zu faul oder zu träge war, was mit seinem Talent anzufangen und sich später mit fadenscheinigen Argumenten aus der Affäre ziehen will. Aber ich finde einen anderen Gedanken viel einleuchtender, weil ich mich da gegen meinen Willen viel näher mit dem Mann verwandt fühlen muss: Zum einen ist er neidisch auf die anderen, die mehr bekommen haben (zehn und fünf Talente), und zum anderen ist er voller Angst, im Konkurrenzkampf unterzugehen und zu versagen. Deshalb entwickelt er sich zu einer Totalverweigerung und w?hlt den Weg der vermeintlichen Sicherheit, und die bestand damals im Vergraben des anvertrauten Gutes. Dass er sich damit völlig der Möglichkeit beraubt, etwas aus seinem Leben zu machen, dass ihn die Angst, der Neid und der immer stärker werdende Haß und die Wut auf die anderen, die sich am Ende sogar auf den Geber erstreckt, an einem von Gott gewollten, erfüllten Leben hindert, – das alles hat er nicht im Blick.

Die Angst kann lähmen – was soll ich schon erreichen können? Was passiert, wenn es schief geht? Sicher ist sicher – und ich komme ohne eigene Aktivität vielleicht am ehesten durchs Leben. Reicht das aus, was ich habe und kann, um was in meinem Leben zu erreichen? Ach – wer bin ich denn, wer will schon von mir was wissen. Was kann ich schon? Oft schon habe ich in den letzten Jahren mit solchen Gedanken in meiner Wohnung gesessen. Voll von Selbstmitleid (wie haben es die anderen gut mit ihren Arbeitsstellen – ich bin mal wieder am schlechtesten dran), voll von Angst zu versagen, voll von Zweifeln an mir und meinen Möglichkeiten. Versteck dich – fall bloß nicht auf, dann fällst Du nicht auf die Nase. Solche Zeiten führen zu Verbitterung – und zu seelischer Versteinerung. Ich kann den Knecht verstehen, wenn er Gott alles vor die Füße wirft und sagt: hier hast Du! Ich habe fertig! – Und der Herr kanzelt ihn ebenso heftig ab: Klar hast Du fertig – Du Versager, Du hast nichts auf die Reihe gekriegt und suchst die Schuld nur bei anderen – Ich habe fertig mit Dir! Ab in die Finsternis.

In unserer Welt – und auch in diesem Gleichnis ist die Geschichte hiermit zu Ende. Versager bekommen ihre Strafe und verschwinden. Das ist das Unbequemste an der Geschichte. Denn die Frage: Was fange ich mit meinem Leben an? Was tue ich mit meinen Talenten, mit meinen Fähigkeiten? Bekomme ich Dinge auf die Reihe, dass ich sagen kann: Das habe ich erreicht – ich stelle mich der Beurteilung.

Doch zum Glück für mich und uns alle gilt: Bei Gott ist das letzte Wort nicht so schnell gesprochen. Der Fall ist für ihn nicht abgeschlossen. Gott ist nicht so schnell fertig mit uns. Er gibt uns nicht gleich verloren. Das ist der andere Teil des Evangeliums, der frohen Botschaft. Das ist sogar der entscheidende Teil: Es gibt noch eine Chance. Das erzählen andere Gleichnisse Jesu, etwa das vom verlorenen Sohn. Es gibt die Chance zur Veränderung, zur Rückkehr – oder um mit der altertümlichen Sprache der Bibel zu sprechen: zur Buße. Das ist nicht Thema dieses Gleichnis. Dafür wird in vielen anderen Geschichten davon erzählt: Vom schuldbewussten Zöllner, von dem einsichtig gewordenen Pharisäer, vom verlorenen Sohn und dem gefallenen Mädchen, die zurückfinden und mit offenen Armen von Gott aufgenommen werden. Mit anderen Worten: Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten ist das vorletzte Wort.

Das letzte Wort Jesu heißt: Im Himmel wird mehr Freude sein über einen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen. Das gibt mir Kraft, zum Weitermachen, das hilft mir, mich über die gelegentlich nötigen Tritte von Freunden zu freuen, die mich immer wieder aus der Trägheit und den Selbstzweifeln, der Angst vor dem Versagen rausholen.

Amen.