WP-Karl-May-Podcast

Ist Lesen schädlich? Letztens meinte ein Freund, ich solle mir doch eine Stirnlampe umbinden, damit ich abends auch noch an der Bushaltestelle lesen kann. Komischerweise hab ich die Idee schon eine halbe Minute ernsthaft bedacht.

Ich gestehe: Ich lese fast alles, was mir vor die Augen kommt. Schon bevor ich in die Schule kam, verging kaum eine Woche, in der ich nicht irgendein neues Buch bei meinem Vater ausborgte. Eines der ersten Bücher, an die ich mich erinnern kann, ist „Der Schatz im Silbersee“ von Karl May. Das habe ich regelrecht verschlungen wie vorher schon Grimms Märchen.

Es folgten in den nächsten Jahrzehnten alle möglichen mehr oder weniger gehaltvollen Werke: Jules Verne, Alexander Wolkow oder Friedrich Gerstäcker las ich ebenso wie Shakespeare, Thomas Mann oder Johannes Bobrowski und Rafael Alberti. Und natürlich Thriller von Tom Clancy, Dan Brown oder John Grisham.

Die schönsten Kindheitserinnerungen sind die an Abende, wo mein Vater uns vor dem Schlafengehen noch vorlas. Auf diesem Wege hörte ich erstmals „Nils Holgerson“ oder das unvergleichlich witzige Jugendbuch „Die gefesselten Gespenster“, bei der er sein Talent, die einzelnen Figuren mit charakteristischen Stimmen zum Sprechen zu bringen, voll ausspielen konnte. Schade war nur, wenn das tägliche Kapitel zu Ende war und man auf den nächsten Abend vertröstet wurde. Später dann war immer grade dann die Batterie in der Taschenlampe alle, wenn es besonders spannend wurde. Die Spannung einer Geschichte ist mir seither wichtiger, als die offiziell verkündete literarische Bedeutung derselben. Thriller sind oftmals unterhaltender als endlose Gedankenspielereien deutscher Möchtegern-Intellektueller. Und das Happy-End eines Karl-May-Romans ist befriedigender als der frustrierende Schluss von philosophischen Essays, die man bloß zur Hälfte verstanden hat.

Jetzt also mal wieder das „Waldröschen“. Irgendwann in der 6. oder 7. Klasse bekam ich erstmals die fünf Bände aus dem Karl May.-Verlag in die Hand. „Schloss Rodriganda“ hatte selbst in dieser gekürzten Fassung einen Reiz, den für mich die Orientbände nie hatten. Erst nach der Wende fand ich den kompletten Text und vergaß sofort alles andere um mich herum. Natürlich ist der Roman Kitsch und Schund in Reinkultur. Aber das ist Tarantino auch. Und es ist großartiger Kitsch! Es wird geliebt (selbst ohne Heirat), es wird gefoltert und getötet und immer wieder entkommen die extrem bösen ihrer Strafe. Da wird gemordet, gefoltert, gequält, dass sich die Balken biegen, ganz widerwärtige Brutalitäten und Gemeinheiten werden gleichsam genüsslich geschildert. Die Zahl der Tötungen, auch sehr willkürlich und unnötig seitens der „Helden“, geht wohl wirklich in die Tausende. Und dann gibt es wieder Humor, Menschlichkeit, Unfug, Weltanschauung, undsoweiter undsofort. Ich liebe dieses Endloswerk. Schade, dass keiner eine Fernsehserie draus macht. Das wäre ein Grund, über die Anschaffung eines TV-Gerätes ernsthaft nachzudenken (oder auf die DVD-Box zu warten).