Wie soll man sich Woody Guthrie nähern? Mit Dylans verklärtem Blick auf den großen Helden? Mit dem kritischen Blick auf einen Musiker, der sich Zeit seines Lebens niemals von seiner Verehrung für Stalin losgesagt hat? Mit dem Blick auf die Songs, die heute noch immer von Folk bis Punk neue Interpretationen erfahren?  Klar ist: Neben Dylan war Woody Guthrie (1912-1967) der einflussreichste Songschreiber der USA im 20. Jahrhundert. Und ohne ihn hätte es Dylan so nicht gegeben.

Vorbemerkungen 2012
Kapitalismuskritik ist wieder chic im Jahre 2012. Sie ist wieder angebracht in Zeiten, wo man bei den Versuchen zur Bewältigung der Bankenkrise immer wieder an Marxens Grundgesetz des Kapitalismus von der Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste erinnert wird. Und mit Bewegungen wie occupy äußert sich die Kritik am global vernetzten Kapital auch wieder auf den öffentlichen Plätzen. Doch etwas ist anders als etwa in den Jahren der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts oder den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Es ist ein Protest ohne eine wirklich einende Musik. Es gibt sie nicht mehr, die Sänger, die die Probleme einleuchtend und einigend auf den Punkt bringen und Melodien zum Mitsingen finden. Klar, occupy ist vor allem in Deutschland weit davon entfernt, eine einheitliche Bewegung zu sein. Es ist eine Ansammlung der verschiedensten Gruppen von Unzufriedenen von Altlinken (mit ihren immer noch vorhandenen Träumen vom Kommunismus) über grüne Wohlstandsbürger mit einem allgemeinen Unwohlsein beim Blick auf die Welt bis hin zu den Opfern der Krise, die Jobs oder in den Vereinigten Staaten auch ihre Häuser verloren haben. Niemals wären diese Menschen etwa bei Konzerten aufeinander getroffen. Doch im Protest gegen das „eine Prozent“ der Gesellschaft waren sie zusammen aktiv.

Die Heimat des Okie-Cowboys
Wobei auch der Weg von Woody Guthrie zu einem linken Songschreiber nicht von vornherein vorgezeichnet war, sondern sich eher nebenbei aus der Biografie und seinem unbändigen Freiheitswillen entwickelte. Ganz patriotisch nannten die Eltern ihren am 11. Juli 1912 geborenen Sohn nach dem Präsidenten Woodrow Wilson Guthrie. Doch außer seiner Mutter nannte ihn bald jeder nur noch Woody. Sein Vater lebte als konservativer Kleinstadtpolitiker und Landspekulant in der Kleinstadt Okehma in Oklahoma.  Als Woody acht Jahre alt war, wurde Erdöl gefunden und die eigentlich ziemlich verschlafene Gegend wurde jetzt zum Zentrum für Arbeiter, Spekulanten, Gauner, Hausierer, Wanderprediger und alle möglichen anderen Bevölkerungsgruppen. Auch Bluesmusiker, Gospelsänger oder Indianermusiker fanden sich ein und erweiterten das musikalische Weltbild des Jungen, der bislang hauptsächlich die Lieder der Cowboy-Familie seines Vaters und die Balladen aus den Appalachen, die seine Mutter sang, gehört hatte.
Wenn jemand bei dem Ölboom reich wurde – die Guthries zählten nicht dazu. Denn immer wieder hatten sie wirtschaftliche und familiäre Schläge zu verkraften: Das neue Haus der Familie war schon 1909 bald nach der Fertigstellung in Flammen aufgegangen. Und 1919 starb Woodys Schwester Clara, als ihr Kleid bei Hausarbeiten Feuer fing. Das größte Drama war allerdings die Krankheit der Mutter, die an Huntington litt, einer fortschreitenden Degeneration der Nerven. Irgendwann war sie körperlich und geistig völlig zerrüttet und musste in eine eine Anstalt eingewiesen werden. Sein Vater hatte bei einem Brand 1927 schwere Verletzungen erlitten und war im Grunde genommen pleite. Während Woody halb auf der Straße aufwuchs, fand sein Vater in Pampa/Texas eine Arbeit als Pförtner in einem Bordell. Woody selbst schlug sich mit dem Malen von Ladenschildern und als Musikant durch. Musikalische Vorbilder waren für ihn „The Singing Breakman“ Jimmie Rogers und die Carter Family. Und nebenbei las er jedes Buch in Reichweite, ob es sich nun um Religion, Psychologie oder Romane handelte. Mit seiner ersten Frau Mary zog er gemeinsam für eine Weile mit einem Wanderzirkus umher. Denn ein sesshaftes Leben war da schon nichts mehr für ihn.

„Dust-Bowl“
Verheerende Sandstürme brachten in den 30er Jahren das Leben der einfachen Bevölkerung in Oklahoma, Texas, Arkansas und anderen Bundesstaaten komplett aus dem Gleichgewicht: Mit einem Schlag verwandelten sich die Felder, die in den Prärien im später so genannten „Dust Bowl“ angelegt worden waren, in unfruchtbare Wüsten. Zu Tausenden zogen die Menschen mit ihren Habseligkeiten in Richtung Kalifornien. Hier beginnt die Legende der Route 66. Und hier beginnt auch die Kunst so verschiedener Menschen wie die Romane von John Steinbeck und die Musik von Woody Guthrie. Eines seiner ersten Lieder hieß: „So Long, It‘s Been Good To Know You“ und erzählt die Geschichte des Sandsturmes. 1937 trampte Guthrie ohne seine Familie nach Kalifornien und begann eine Karriere als singender Cowboy. Das war damals im Gefolge von Gene Autry der letzte Schrei in Hollywood. Gemeinsam mit seinem Cousin Jack ergatterte er einen Job bei einem regionalen Rundfunksender. Als der Cousin ausstieg – schließlich gab‘s für die Auftritte kein Geld, fand Woody mit „Lefty Lou from Old Mizoo“ eine musikalische Partnerin. Der Erfolg gerade bei den Zuwanderern aus Oklahoma und Arkansas führte dazu, dass die beiden schließlich einen bezahlten Job beim Sender bekamen und Woody endlich seine Familie nach Los Angeles holen konnte. Das Familienleben war aber nur kurz. Denn bald schon trampte Woody quer durch Kalifornien und erkundete, wo und wie die Zugewanderten in dem Bundesstaat lebten. Und das war für ihn erschreckend: Riesige Zeltlager und Barackensiedlungen ohne sanitäre Einrichtungen, ohne Schulen oder gar medizinische Versorgung. Und die Löhne auf den kalifornischen Farmen waren durch das Überangebot an Arbeitskräften auf niedrigstem Niveau. Hier begann Woody nicht nur sich politisch nach links zu orientieren, dies führte vor allem auch dazu, dass er eigene Lieder als bissige Kommentare zur Zeit schrieb wie „Do Re Mi“ über das Geld, das den Zuwanderern fehlt und sie in Kalifornien zu einem Elendsdasein verdammt.
Gemeinsam mit dem kommunistischen Journalisten Edward Robbin und dem Schauspieler Will Geer zog er bald darauf durch die „Okie-Lager“ und rezitierten und sangen vor Zuwanderern, bei Streiks und Gewerkschaftsveranstaltungen. Guthrie betrachtete sich jetzt als Kommunist und schrieb für die Parteizeitung eine regelmäßige Kolumne. So lange bis der Wandertrieb ihn mal wieder packte und er erst seine Familie zurück nach Texas verfrachtete und selbst nach New York trampte.

Der Beginn des Folk-Revival in New York
Als „Beginn der Volkslied-Renaissance“ oder anders ausgedrückt als Beginn des Folk-Revivals wird jenes Konzert angesehen, dass Will Greer am 3. März 1940 im Forrest Theater in New York organsierte. Neben Greer und Guthrie traten hier die bekanntesten Musiker der linken oder linksliberalen Szene auf, um Geld für die von den Sandstürmen Betroffenen zu sammeln: Alan Lomax mit seiner Schwester Bess, Leadbelly, Josh Whith und das Golden Gate Quartett. Und – auch wenn sein Auftritt wegen Nervosität ziemlich in die Hosen gegangen sein soll – Pete Seeger.
Lomax lud Guthrie danach nach Washington ein, um mit ihm ein Interview für die Library of Congress aufzunehmen, wie er es schon mit Leadbelly, Big Bill Broonzy und Jelly Roll Morton gemacht hatte. Woody blieb gleich in der Stadt und quartierte sich bei der Familie Lomax ein.
So langsam wurde Woody mit seiner Musik auch überregional bekannt. Er trat in landesweiten Rundfunksendungen mit seinen Liedern auf und veröffentlichte bei RCA ein Album mit den „Dust Bowl Ballads“. Wobei Album hier noch ganz klassisch gemeint ist: Zwölf Platten mit je zwei Liedern, die in einem Album geliefert wurden. Bei Auflagen von rund 1000 Kopien war das natürlich kein großer Hit. Aber in der Szene war er als kritischer Songkommentator angekommen mit Songs wie „Tom Joad“ (nach der Figur aus Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“). Mit Pete Seger und Alan Lomax arbeitete er außerdem an der Herausgabe eines Buches mit Liedern von Joe Hill, Maurice Sugar und anderen Songschreibern unter dem Titel „Hard-Hitting Songs for Hard-Hit People“. Das erschien allerdings erst knapp 30 Jahre spätern, nachdem das Manuskript zunächst verloren schien. Zurück in New York sang er bald für verschiedene regionale Radiosender – oft auch gemeinsam mit Leadbelly oder dem Golden Gate Quartett und begann, eine halbstündige Sendereihe für die CBS zu produzieren, auch wenn der Sender bislang dafür noch keine gesicherte Finanzierung vorweisen konnte. Insgesamt ging es ihm wirtschaftlich langsam besser. Rr konnte seine Familie nach New York holen und endlich mit den Kindern gemeinsam leben. Daneben verschärften sich die sozialen Themen seiner Lieder, je abgesicherter er selbst leben konnte. Aus Protest gegen das damals ständig im Radio gespielte „God Bless America“ von Irving Berlin schrieb er das Lied, das manche als inoffizielle Hymne der Vereinigten Staaten ansehen: „This Land Is Your Land“ gehört heute in die Schulbücher nicht nur in den USA. Selbst in der DDR wurde das Lied als Beispiel für progressive Kunst im Kapitalismus behandelt. Dabei werden doch zumeist die Verse fortgelassen, in denen Guthrie am deutlichsten die sozialen Zustände im Land anprangert:

As I went walking, I saw a sign there,
And on the sign there, It said „no trespassing.“
But on the other side, it didn‘t say nothing!
That side was made for you and me.

In the squares of the city, In the shadow of a steeple;
By the relief office, I‘d seen my people.
As they stood there hungry, I stood there asking,
Is this land made for you and me?

Doch dann bot ihm eine Tabakfirma eine eigene wöchentliche Sendung an, für die er 200 Dollar erhalten sollte. Plötzlich veränderte er einige seiner Lieder und machte aus ihnen Werbesongs. Aber der große Durchbruch sollte ihm auch so nicht gelingen. Denn jetzt wurde er öffentlich als Kommunist denunziert. Und das kam im Oktober 1940 einem beruflichen Knockout gleich. Zumindest brachte es Woody mal wieder aus dem Gleichgewicht. Er schmiss seine Rundfunksendungen hin und machte sich mal wieder auf Tramp- oder in dem Fall besser: auf Kneipentour. Und dann ging es gleich ganz zurück nach Kalifornien. Doch auch dort wollte man mit dem Kommunisten erst mal nichts zu tun haben. Schließlich waren die Kommunisten damals strikt gegen einen Kriegseintritt der USA auf der Seite Großbritanniens und verteidigten sogar den Hitler-Stalin-Pakt und den sowjetischen Überfall auf Finnland.

Am Grand Coulee Damm
Woody machte sich daher auf nach Portland, wo am Columbia-River zwei große Staudämme errichtet werden sollten und über das Regierungsprojekt auch ein Dokumentarfilm geplant war. Allerdings bekam er nicht den erhofften Job als Folksänger in dem Film, wurde aber für eine Weile als Landvermesser bei dem Projekt eingesetzt. Trotzdem schrieb er in der Zeit eine ganze Serie von Liedern über das Projekt, den Fluss und die Region. Großspurig seine Verse, die die damals größte Talsperre der Welt als größtes aller Weltwunder preisen:

„Now the world holds seven wonders that the travelers always tell,
Some gardens and some towers, I guess you know them well.
But now the greatest wonder is in Uncle Sam‘s fair land,
It‘s the big Columbia River and the big Grand Coulee Dam. (…)“

Nach einem Monat allerdings war der Traum aus, Der Film wurde niemals fertiggestellt. Woody pleite, seine Frau wollte die Scheidung, das Auto war beschlagnahmt. Und für den Rückweg nach New York fand sich nur ein Viehwaggon.

In der Almanac-Kommune
Pete Seeger hatte in New York inzwischen eine Gruppe musizierender Freunde gefunden, mit denen er eine lose Band gründete, die vor allem bei politischen Veranstaltungen auftrat. Doch die „Almanac Singers“ schafften mit ihren alten und neuen Folksongs den Schritt heraus aus der reinen Gewerkschaftsszene. Oder zumindest hätten sie ihn ein paar Mal fast geschafft, wenn sie mit ihrer politischen Ausrichtung nicht immer wieder angeeckt wären. So sangen sie zunächst gegen die Politik von Präsident Roosevelt und gegen eine Kriegsbeteiligung der USA. Dann allerdings griff Deutschland die Sowjetunion an und die Stimmung im Land kippte. Guthrie – inzwischen Teil der Band – nahm mit ihnen gemeinsam schnell ein paar Shanties und Siedlerlieder auf Platte auf. Und dann gingen sie auf Tour mit dem von den Einnahmen gekauften Buick. Überall wo Streiks waren, traten die Sänger auf in ihren Arbeitsklamotten – damals noch ein Affront gegen das System. Schließlich kaufte man gar ein gemeinsames Haus und gründete eine Kooperative. Später nannte man sowas wohl Kommune oder zumindest WG. Und vom Chaos her muss es wohl vergleichbar gewesen sein, wenn man den Ausführungen von Victor Grossman in seinem Buch „If I Had A Song“ glauben kann.
Zu dem losen Haufen kamen im Laufe der Zeit noch eine Menge Musiker hinzu. Auch die Bluesmen Sonny Terry und Brownie McGhee, die von Lomax in die New Yorker Szene geholt worden waren, gehörten irgendwann dazu. Schließlich waren soviele Leute Teil der Almanac Singers, dass man gleichzeitig an verschiedenen Orten Konzerte geben konnte. Doch durch den Gang der Geschichte war immer wieder mal ein kompletter Wechsel des Programmes fällig: Als Japan die USA angriff, hörten die Gewerkschaften sofort mit ihren Streiks auf und unterstützten die Kriegswirtschaft. Und damit waren die Auftrittsmöglichkeiten der Streikbarden dahin. Aber schnell hatten sie Anti-Hitler-Lieder geschrieben, die von Decca sogar als Album veröffentlicht werden sollten. Im New Yorker Nachtclub „Rainbow Room“ bekamen sie ein langfristiges Engagement mit ihren Folksongs. Und schließlich waren sie sogar in landesweiten Radiosendungen zu hören. Nur dass dann plötzlich New Yorker Zeitungen Schlagzeilen wie „Friedenschor wechselt Melodie“ oder „Sänger in Kriegsmoral-Sendung zwitscherten auch für Kommunisten“ veröffentlichten, brachte die Karriere der Almanac Singers zu einem plötzlichen Ende. Ein Teil der Gruppe zog nach Detroit, um dort vor den Arbeitern in der Autoindustrie zu singen. Pete Seeger wurde im Juli 1942 zur Armee eingezogen. Und Woody Guthrie trat in die Handelsmarine ein, wo er in Geleitzügen über den Atlantik Dienst als Schiffskoch tat und gleich zwei Mal versenkt wurde.

Der Vater des Folkrevival
Auch wenn die Musiker um Pete Seeger auch nach dem Krieg ihr politisches Engagement fortsetzten, wurde es doch durch den Antikommunismus der McCarthy-Ärä so gut wie unmöglich, damit öffentlich wirken zu können. Josh White, Pete Seeger, Paul Robeson und andere wurden vor den Ausschuss zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit geladen und gaben dort ganz unterschiedliche Bilder ab. Während White versuchte, durch eine Aussage seine Karriere zu retten, auch wenn er damit Robeson ans Messer lieferte, versuchte Seeger ohne Verleumdungen und ohne Zugeständnisse durchzukommen. Guthrie lebten inzwischen mit seiner neuen Frau Marjorie zusammen und versuchte nach seiner fiktiven Autobiografie „Bound For Glory“ ein zweites Buch zu schreiben. Daneben schrieb er seiner Tochter Cathy eine Menge Kinderlieder. Als sie mit vier Jahren durch ein Feuer starb, fiel Guthrie in eine tiefe Depression.
Und schließlich brach bei ihm die gleiche Krankheit aus, die auch seiner Mutter zum Verhängnis wurde. Nachdem er im Zustand der geistigen Umnachtung seine Frau und die Kinder mehrfach angegriffen hatte, ließ er sich in ein Krankenhaus einliefern, wo er die letzten Jahre seines Lebens blieb. Eigentlich war er von der Welt schon fast vergessen. Doch dann kam Bob Dylan als Pilger daher, sang für ihn und sang öffentlich seine Lieder. Und damit war spätestens die Legende geboren. Ganz unabhängig von Fragen des Antikommunismus oder was auch immer. Nur noch von alt gewordenen Antikommunisten wird er heute noch wegen seiner politischen Gesinnung abgelehnt. Und auch wenn in seiner Geburtsstadt noch immer kein Museum an ihn erinnert, steht doch zumindest auf einem Wasserbehälter am Stadtrand groß „Home of Woody Guthrie“. Auch wenn das so ziemlich das einzige Zeichen dafür ist, dass man sich in Okehma an den wohl berühmtesten Sohn der Stadt überhaupt erinnert. Selbst die Stelle, wo bis Ende der 70er Jahre das Haus der Guthries stammt, ist heute komplett zugewachsen. Vom Haus selbst sieht man noch die Fundamente. Und als Billy Bragg Anfang des Jahrhunderts dort war, bot ein Trödler Holz an, was von dem Haus der Guthries stammen soll. Einen Beleg allerdings gab es nicht dafür.