Thomas Lehr „September. Fata Morgana“
(Erik Münnich für Plattform – Die Literatursendung auf Radio 98eins)
Verlag: Hanser; Auflage: 4 (16. August 2010)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3446235574
ISBN-13: 978-3446235571
Erik Münnich für Plattform – Die Literatursendung auf Radio 98eins
Ab und zu begegnen einem wunderbare Dinge, von denen man entweder sofort oder erst später weiß, dass sie einzigartig sind. Die letzte solcher Begegnungen war für mich diejenige mit Thomas Lehrs Roman „September. Fata Morgana“. Als ich den Auftrag der Redaktion erhielt, eine Rezension über dieses Buch zu verfassen, war ich wenig begeistert, hatte ich doch schon einige sehr negative Kritiken gelesen. Als ich mich dann aber an die Lektüre machte, musste ich sehr schnell feststellen, dass dieser Roman das macht, was an Literatur zu schätzen ist und was in der dazugehörigen Wissenschaft mit dem Begriff der Literarizität beschrieben wird: „Was macht aus einer sprachlichen Nachricht ein Kunstwerk? ist die für diesen Begriff ausschlaggebende Frage. Die Literarizität als das Spezifische, das Literarische. Also diejenigen Eigenschaften, die sich untersuchen, erfassen und erfahren lassen und Texte in einem besonderen Maße zu Literatur machen.“Der Begriff zielt also auf die formale Gestaltung von Texten und trennt diese von inhaltlichen Aspekten. Aber der Reihe nach. Der Roman erzählt die Geschichte zweier Väter und ihrer fast erwachsenen Töchter an verschiedenen Schauplätzen (Bagdad, Berlin, Frankfurt, New York und Paris) zwischen dem 11. September 2001 – den Anschlägen auf das World-Trade-Center – und dem September 2004 – einem Bombenattentat in Bagdad. Es ergibt sich eine doppelte Figurenkonstellation: Auf der einen Seite der deutsche Goethe-Forscher Martin Lechner und seine Tochter, die Studentin Sabrina, in Massachusetts; auf der anderen Seite der Arzt Tarik und dessen Tochter, die Schülerin Muna in Bagdad. Beide Väter verlieren ihre Töchter durch die bereits erwähnten Anschläge: Sabrina stirbt in den Türmen, Muna wird Opfer des Bombenattentats in Bagdad. Die Geschichten beider Familien wird in verschiedenen Monologen der vier Charaktere erzählt. Doch der Roman geht weit darüber hinaus. Was sich in den Monologen und durch diese aufspannt, ist vielschichtig und umfangreich: eine Begegnung mit zwei Kulturen, die ohne Klischees und Stereotypen auskommt und so einen sehr persönlichen, weil an die Protagonisten gebundenen, Einblick vermittelt; eine ebensolche Auseinandersetzung mit den Themen Öl, Krieg und Terror, die nicht von der üblichen Schwarz-Weiß-Malerei geprägt ist – wie sie immer und immer wieder in den verschiedensten Medien begegnet –, sondern alternative Blickwinkel erlaubt; eine Geschichte der Opfer des 11. Septembers sowie der dadurch entfachten Kriege – Sabrina und Muna als Stellvertreterinnen –, die ohne Glorrifizierungen oder ideologische, politische usw. Färbungen auskommt. Daraus ergibt sich nicht nur ein Nebeneinander verschiedener Ereignisse, Gedanken, Kommentare und dergleichen, sondern auch zahlreiche Überschneidungen und (textuelle) Bezüge, die eine genaues Lesen, einen aufmerksamen Leser und mehrmaliges Zurückblättern nötig machen. Dieses ist aber nicht nur durch die Komplexität des Geschehens provoziert, sondern vor allem durch die formale Gestaltung. Diese ist es, die den verschiedenen Ereignissen und Charakteren einen Zusammenhang gibt, den Roman erst herstellt. Und im Fall von Thomas Lehr ist sie konsequent und im Gegenstand angelegt.
Das auffälligste und folgenschwerste formale Merkmal des Romans ist der Verzicht auf jegliche Interpunktion. Passagen wie „die englische Zeit endet gerade denn die Leute sind hier nach vierzig Jahren Ausbeutung und Bevormundung doch etwas wütend geworden sie erschossen den König und seine Familie sie schleppten den toten Regenten durch die Straßen und erkannten den ewigen Ministerpräsidenten den größten Freund der Engländer als er in Frauenkleidern zu fliehen versuchte lynchten ihn begruben ihn und rissen die Leiche in Stücke“ oder „wie konnte es geschehen (als fragten wir es uns dort in den feldern bei Samarkand als wären wir entronnen) dass wir nach New York City kamen nach Manhattan auf diese wie von Wahnsinnigen mit gigantischen Steinsäulen beladene mit monströsen Glastürmen gespickte von Blechlawinen durchzogene speerspitzenschmale Insel im Strom die Stadt der Städte“ sind für den Leser sicher gewöhnungsbedürftig. Aber er wird sich schon nach wenigen Seiten daran gewöhnen und Gefallen finden an dem Spiel mit Bedeutungen. Wie ein Fluss verschwimmen diese, es entstehen Mehrdeutigkeiten, an einigen Stellen Missverständnisse. Dies ist aber kein Problem, sondern der Ausdruck dessen, was auf inhaltlicher Ebene angelegt ist. Nicht starre Wertung des Dargestellten oder klare Ordnung in Gut und Böse, sondern eine tastende Begegnung mit dem Anderen steht hier im Vordergrund. An diesen Zusammenhang knüpfen die diversen Zeilensprünge an, mit denen der Roman operiert. Diese sind oftmals lyrischen Texten zuzurechnen. Dass diese in einem Roman anzutreffen sind, ist nicht, wie von einigen Rezensenten behauptet, problematisch, sondern genuin literarisch. Dieser Umstand lässt sich auch mit dem „Paradox der Literatur“ beschreiben. „Texte müssen, um als literarisch zu gelten und einer Textsorte zugeordnet zu werden, bestimmte Regeln und Konventionen erfüllen. Gleichzeitig unterwandern sie diese aber.“ Außerdem entsteht durch diese, neben fehlender Interpunktion, eine Mehrdeutigkeit, die nicht durch die Abstellung auf die Intention bzw. Absicht des Autors zu klären ist, sondern im Wesen der Literatur angelegt ist. In Literatur geht es eben nicht um das Verstehen, Literatur liegt weitab von diesem tradierten Anspruch der Geisteswissenschaften. Zwei weitere, aber nicht unwesentliche Aspekte sind Montage und intertextuelle Bezüge. Ersterer betrifft die Gedichte verschiedener Verfasser am Ende vieler Kapitel bzw. Monologe. Neben Goethes „West-östlicher Divan“, Friedrich Rückerts „Kindertotenlieder“ und Walt Whitmans „Grasblätter“ werden auch ararbische und persische Dichter zitiert. Im Gegensatz zum prosaischen Teil wird hier die Zeichensetzung beachtet. Letztere betreffen Zitate im Fließtext, die Zeitungen, Fernseh- und Radiosendungen, religiösen Büchern und anderen Publikationen entnommen sind und das Geschehen spiegeln, aufladen, verschränken, kommentieren usw. September. Fata Morgana“ ist neben der erzählten Geschichte vor allem wegen seiner formalen Gestaltung hervorzuheben. Der Roman macht eindringlich vor, zu was Literatur im Stande wäre, wie diese funktionieren könne, wenn man nicht nur auf leicht verständliche, seichte Inhalte und ein breites Publikum, das sich überall wiederfinden und alles nachvollziehen kann,setzen würde. Der Roman stellt hohe Anforderungen an seinen Leser. Dieser muss bereit sein, sich auf diese Herausforderung einzulassen. Tut er dies, wird die Lektüre des Romans zu einem besonderen Erlebnis. Und sie wird, anders als oftmals behauptet, zu einem großen Vergnügen.