Wenn man davon ausgeht, welchen Ruf Sugar Blue als Mundharmonikaspieler unter Kollegen aus Blues, Rock und Jazz hat, müsste er eigentlich seit Jahrzehnten ein Superstar sein. Doch unter eigenem Namen hat er demgegenüber noch recht wenig veröffentlicht. Auf dem live mitgeschnittenen Doppelalbum „Raw Sugar“ kann er die ganze Bandbreite seines Spiels zwischen lyrisch-einschmeichelnd bis hin zu explosiv und experimentell in dreizehn teils sehr langen Stücken vorstellen.
Musikhistoriker vergleichen die Bedeutung von Sugar Blue für die Entwicklung der Mundharmonika gerne mit Superstars wie Jimi Hendrix oder auch Charlie Parker. Denn der in New York zunächst als Straßenmusiker aktive Musiker hat die Möglichkeiten der Bluesharp ähnlich durch den Einsatz von Elektronik und Studioeffekten ähnlich erweitert wie Hendrix die der traditionellen Bluesgitarre. Und seine wilden Läufe gemahnen in ihrer harmonischen und technischen Komplexität nicht nur manchmal an die Improvisationen des jungen Parker. Das traditionelle Spiel von solchen Giganten wie Little Walter oder James Cotton und Charlie Musselwhite wirkt demgegenüber sehr konservativ. Nicht von ungefähr wirkte der zeitweise nach Frankreich ausgewanderte Musiker an etlichen Alben der Rolling Stones ebenso mit wie auf Werken von Frank Zappa ebenso wie von Willie Dixon und andern Bluesern. Doch während sein Riff und das Solo zu „Miss You“ auf „Some Girls“ von den Stones allgemein bekannt sind, ist er als eigenständiger Bluesmusiker eigentlich erst in den 90er Jahren wirklich bekanntgeworden, als er zwei Alben bei Alligator veröffentlichte. Zuletzt erschien 2010 „Threshold“, wo er schon von seiner derzeitigen Band mit Gitarrist Rico McFarland, Keyboarder Damiano Della Torre, Ilaria Lnatieri am Bass und Schlagzeuger James Knowles begleitet wurde.
„Raw Sugar“ ist als Plattentitel nur die halbe Wahrheit. Natürlich gibt es hier jede Menge heftiger und rauher Funkblues-Exkursionen, für die völlig zu Recht ein Begriff wie „zeitgenössischer Blues“ existiert: Was Sugar Blue hier mit seiner Band spielt, ist meilenweit entfernt vom klassisch daherkommenden Chicago-Blues etwa auf den letzten Alben von Kollegen wie Charlie Musselwhite, James Cotton oder auch Bob Corritore. Klar werden auch Klassiker wie der unvermeidliche Hoochie Coochie Man gespielt – doch klingen die mehr als dreizehn Minuten dieses Liedes eher wie durch eine Zeitmaschine geschickt. Und auch eine Solonummer wie „Another Man Done Gone“ refletieren durchaus die lange Geschichte der traditionellen Bluesharmonika – um im nächsten Moment wieder in soulige Sphären abzuheben. Am typischsten für diese Art des Funkblues geraten auf „Raw Sugar“ „Miss You“ und das nahtlos anschließende „Messin with the kid“. Das ist eine Kombination aus Blues mit dem harten Funk eines James Brown gefiltert durch die Exzesse der Stones und das harmonische Schlitzauge eines Frank Zappa. Und McFarland spielt dazu eine Gitarre, die der Harp in Wildheit in nichts nachsteht. Ein mitreißendes Live-Album, das hierzulande wohl nur als Download erhältlich ist.{module Bluespfaffe}