Erinnerungen an das Aufwachsen mit dem Blues in der DDR. Eine Jugend zwischen NDW, dem Köln Concert und der kirchlichen Jugendarbeit.
Eine Landschaft: Der Fluss im Tal noch von Nebel verhüllt. Die Felder bepflanzt mit Mais, Gerste oder Kartoffeln. Der Kirchturm mit seiner barocken Zwiebelhaube ist im Hintergrund. Dazu spielt die Mundharmonika: entweder bringt sie in zahllosen Versuchen etwas hervor, was entfernt an den ”Reichsbahnblues“ erinnert. Oder sie variiert ewig über das ”Lied vom Tod“. Garantiert endet sie irgendwann mit wütendem Akkordkreischen.
Es ist morgens gegen dreiviertel sieben, irgendwann so um 1983/84, mitten in Sachsen. Ich bin auf dem Schulweg, fahre freihändig auf dem Fahrrad. Die Hände brauche ich für die Harmonika. Und ich hab den Blues. Glaub ich jedenfalls.
Rückblick: Es muss irgendwann Anfang der 80er gewesen sein. Meine ältere Schwester hatte versprochen, mich in mein erstes Konzert mit zu nehmen. Nicht ins Sinfoniekonzert, sondern in ein ”richtiges“ Rockkonzert. Und so saß ich Ahnungsloser dann unter massenhaft langharigen Jugendlichen in einer Kirche in Sachsen, wahrscheinlich war es in Seelitz, wo damals der Jugendwart des Kirchenkreises wohnte, und hörte ”Solaris“. Nie gehört von der Truppe? Hatte ich vorher auch nicht. Doch das ging wahrscheinlich nicht nur mir so. Solaris aus Berlin spielte Blues und Rock und ein paar christliche Lieder zur ”Tarnung“ der kirchlichen Veranstaltung. An der Gitarre Matthias Gemeinhardt, der mir später noch häufig als Begleiter von Bernd Kleinow begegnen sollte. Höhepunkt für mich war: das Schlagzeugsolo. So was hatte ich bis dahin nicht gesehen oder gehört. Das völlige Ausrasten eines Musikers und der Zuhörer. Das gab’s in der Stadthalle Karl-Marx-Stadt bei den Konzerten der Robert-Schumann-Philharmonie nicht.
Wenig später engagierte ich mich selbst in der kirchlichen Jugendarbeit und wurde dort endgültig mit dem Blues infiziert. Immer wenn wir bei unseren monatlichen Treffen Pause machten, griff einer nach der Gitarre, jemand anderes sprang ans Klavier (oder Harmonium, je nachdem, wo wir grad waren), einer holte die Mundharmonika aus der Tasche. Und dann rollten die Boogierhythmen. Die Jugendlichen versammelten sich und sangen Klassiker des Blues oder improvisierten über den Alltag. Irgendwann zog jemand einen Kalender aus der Tasche und sang einfach die offziellen Gedenktage der DDR herunter: eine halbe Stunde Blues ”Walter Ulbricht: geboren und gestorben“. . .
Das war etwas anderes als die damals in den Hitparaden um ein bisschen Frieden jammernde Nicole oder auch der bewusst auf Spaßgesellschaft getrimmte NDW-Sound. Das war handgemachte Musik. Das war Ton gewordene Stimmung zwischen Frust und Freude. Und das war einstmals für DDR-Obere suspekt gewesen. Doch davon war zu meiner Zeit nichts mehr zu merken. Auch wenn Musik von Diestelmann und anderen Bluesern damals eher auf dem Bayrischen Rundfunk als bei den DDR-Sendern zu hören war. In der DDR machte man Computer-Karriere bis zur Rockerrente auf dem Blauen Planeten. Pädagogisch wertvoll und stinklangweilig in meinen Ohren.
Als Lizenzplatten kamen damals Pink Floyd raus und AC/DC oder auch Jarretts „Köln Concert“. Und Tangerine Dream spielten im Palast der Republik. Doch das alles kam an Intensität nicht ran an die Minuten des gemeinsamen Musizierens.
Der Blues hatte mich. Er machte neugierig über die Hitparaden- oder Diskothekenmusik hinaus. Und brandmarkte einen gleichzeitig zum schrägen Außenseiter. Ein Image, das mit Holzperlenketten und gebatikten Windeln als Halstuch noch kultiviert wurde. Schließlich fanden die Lehrer weder mein Uniformhemd der Polizei von San Francisco noch den Gürtel mit der verchromten Smiley-Schnalle als passend für die DDR-Schule. Gegen Blues, die Musik der unterdrückten Farbigen, konnten sie nichts einwenden. Und die Mundi spielte ich glücklicherweise nur zweimal bei Schulveranstaltungen. Mehr hätte man mir sicherlich als Körperverletzung
auslegen können. Zum offiziellen und amtlichen Outfit eines Bluesers hat es bei mir nie gereicht, da war Mutter dagegen: keine Tramperlatschen, kein Parka, kein Hirschbeutel, und schon gar keine langen Haare. Nicht so lange ich noch zu Hause wohnte. So blieb die Mundi, und die nach und nach vom Munde abgesparten Platten und Kassetten: Diestelmanns Dritte, die ich irgendwann mal an einen palästinensischen Kommunisten verborgte und nie wieder bekam. Seine erste, gekauft auf einem Flohmarkt. Und so weiter bis heute…