Eine Artikelserie von Erik Münnich. Teil 2: Leben und Werk I
Literaturwissenschaftler, Rezensenten und Leser neigen dazu, mit Superlativen zu operieren: dieser oder jener Schriftsteller sei der Größte seiner Zunft, dieser oder jene Roman das Sinnbild einer Epoche. Bei David Foster Wallace wäre jede dieser Zuschreibungen unzutreffend: David Foster Wallace nämlich ist der Superlativ! Dennoch ist er einer breiten Leserschaft – zumindest in Deutschland – nur selten geläufig. Innerhalb eines auf Allgemeinverträglichkeit und Verkaufszahlen ausgerichtetem Marktes ist dies durchaus verständlich, wenn es aber um inhaltlich wie formal anspruchsvolle Literatur geht, müsste dieser Name viel öfter fallen.
Als ich mich im Februar dazu entschied, mich mit David Foster Wallace und dessen literarischem Werk in schreibender Weise auseinanderzusetzen, war ich mir nicht wirklich im Klaren darüber, in welcher Form, mit welcher Struktur und auf welches Ziel hin ein solches „Projekt“ anzugehen ist. Die Unsicherheiten diesbezüglich sind nach wie vor vorhanden. Um aber einem allzu fragmentarischem Charakter vorzubeugen und um den im Anreißer postulierten Superlativ – unabhängig von meiner Einschätzung als Leser – zu begründen, habe ich mich entschieden, die ursprünglich ausschließlich auf das Werk konzentrierte Auseinandersetzung in diesem Beitrag zu brechen und mich mit biografischen Aspekten und etwaigen Rückwirkungen auf sein Werk zu beschäftigen. Denn diese könnten helfen, seine oftmals komplexen, durch Anspielungen und intertextuelle Bezüge durchzogenen Texte für den Leser zugänglicher zu machen und nebenbei vielleicht eine kleine, erste und nicht umfassende Lektüreanleitung für seine Arbeiten zu liefern – und: auch wenn ich sein Hauptwerk für später aufsparen wollte, werde ich schon jetzt darauf eingehen.
Die Vorliebe für besondere, nicht gängige Ausdrücke und Begriffe, wie sie in den Texten von David Foster Wallace häufig begegnen, liegt schon in seiner Kindheit und Jugend begründet: er las Nachschlagewerke jeglicher Art wie andere Groschenromane oder Bestseller und – auf Grund eines brillanten Gedächtnisses, das ihn (aber nicht nur das!) in Schule und Studium zu Höchstleistungen
verhalf – lernte er einen Großteil derer auswendig. Diese baute er in unzählige Erzählungen und in seine drei Romane – The Broom of the System/Der Besen im System (1987/2004), Infinite Jest/Unendlicher Spaß (1996/2009) sowie The Pale King. An Unfinished Novel (2011) – ein.
Nicht selten – und auch das ist vielleicht eine Eigenart, die dieser Vorliebe geschuldet ist bzw. sich durch diese erklären ließe – sind diese durch die Fuß- oder Endnoten erläutert: vor allem in dem für sein Hauptwerk gehaltenen Roman Unendlicher Spaß begegnen Letztere auf annähernd 300 Seiten. Diese umfassen hier wissenschaftliche Definitionen von Fachtermini; Erläuterungen zu Leben und (u.a. Film-)Werk von Figuren; zusätzliche Erzählebenen, die der an sich schon hochkomplexen Handlungsebene weitere hinzufügt und diesem Werk den Eindruck einer Unüberschaubarkeit verleiht, die nur schwer in Worte zu fassen ist und innerhalb des Werkes zahlreiche und zusätzliche Nebenkriegsschauplätze aufmacht, die – weil, wissenschaftlich gesehen, nicht im Fließ-, sondern im Nebentext
– dem Plot weitere Zustände, Erscheinungen, Gedanken (von Figuren) usw. hinzufügt, welche die angesprochene Komplexität ins Unermessliche steigern. Doch davon sollte sich niemand entmutigen lassen: nach dreimaliger Lektüre des Buches kann ich es immer noch nicht in Worte fassen und werde sicher noch viele weitere Anläufe brauchen, um weiteres Licht ins Dunkel zu bringen. Neben dieser Vorliebe war Wallace ein – „begnadet“ wäre an dieser Stelle wohl zu viel des Guten – perspektivenreicher Tennisspieler, der es bis auf Platz 17 der US-amerikanischen Nachwuchsliste brachte. Diesen Umstand deutet er in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again: Essays and Arguments/Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich (1997/2008) beim Tischtennis-Duell mit einem Service-Mitglied an. In seinem Hauptwerk ist dieser sogar von grundlegender Bedeutung.
Und nun komme ich nicht länger umhin und muss, bevor ich diesen Faden wieder aufgreife, kurz auf die Bedeutung dieser Arbeit eingehen: in den deutschen Feuilletons wurde der Unendliche
Spaß gefeiert. U.a. schrieb Die Zeit (die literarische Talente sonst nur selten erkennt): „Er [der Roman, E.M.] ist, ungeachtet des Rumors, der ihm seit Jahren vorausgeht (1996 erschien er in den USA), überwältigend und einzigartig“ (Die Zeit, 23.09.2009). Wallace selbst trug schwer an dieser Bürde, weil „er glaubte, eine Erwartungshaltung befriedigen zu müssen, also bei den Lesern das Bedürfnis zu stillen, noch über Infinte Jest hinaus zu gehen.“ (Wasser-Prawda, Januar-Ausgabe 2012). Und […] in einer seiner depressivsten Phasen[…]“ (ebd.) – darauf ist später noch einzugehen – hat Wallace „[…] tatsächlich Infinit Jest mal als Kinderkram abgetan, also als literarisches Werk gar nicht mehr ernst genommen“ (ebd.). Ulrich Blumenbach – der für seine Übersetzung u.a. mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2010 ausgezeichnet wurde – aber relativierte: „Das ist natürlich Quatsch. Es ist eins der größten Werke der US-amerikanischen Literatur der 90er Jahre. Ich würde sagen, des gesamten 20. Jahrhunderts. Weil er das Tableau der amerikanischen Gesellschaft so in den Blick nimmt und in den Griff bekommt“ (ebd.). Es ließe sich sogar noch weiter gehen: die (internationale) Gegenwartsliteratur kennt kein vergleichbares Werk! Selbst Einordnungen, wie sie von Lesern deutschsprachiger Literatur gerne angebracht werden – „aber Thomas Mann“ – sind unzutreffend (und das ist ein Versprechen!).
in einer Tennis-Akademie, die sich auf die Förderung aussichtsreicher, sportlicher wie intellektueller, Talente spezialisiert hat. An dieser Stelle kommen weitere biografische Zuschreibungen bezüglich DFW zusammen: sein intellektuelles – seine Abschlussarbeit zur Modallogik wurde mit Summa cum laude bewertet (darüber hinaus wurde er mit dem Gail Kennedy Memorial Prize ausgezeichnet); danach studierte er Literatur und Philosophie und schrieb während dieses Zweitstudiums nicht nur seinen ersten Roman, sondern auch eine Abhandlung über den deutschen Mathematiker Georg Cantor (Everything and More: A Compact History of Infinity/Georg Cantor: Der Jahrhundertmathematiker und die Entdeckung des Unendlichen 2003/2007); er schloss u.a. mit einem Master in Kreativem Schreiben und brach ein begonnenes Promotionsstudium an der Havard University (in Philosphie) 1992 ab, um einen Lehrauftrag anzunehmen (er hatte einige; eine wunderbare Antrittsrede wurde 2009 veröffentlicht: This is Water: Some Thoughts, Delivered on a Significant Occasion, about Living a Compassionate Life (Ansprache vor Studenten von 2005) – sein sprachliches – was ich im vorhergehenden Beitrag bereits andeutete: die wunderbare „Eigenart“, Dialoge in ihrer Charakteristik (Gesprächspausen, Unterbrechungen usw.) wiederzugeben; eine an die Figuren und deren sozialen/ gesellschaftlichen Hintergrund angepasste Sprache (ein Mathematiker nutzt die „seine“ vermeintlichen Termini, während ein Sportler in der für ihn (von der Allgemeinheit) unterstellten Sprache spricht, und auch das legendäre Black American English fehlt nicht); und selbst diese eben angesprochenen Eigenheiten werden bis ins kleinste Detail ausgebaut: Rechtschreibungsoder Grammatikfehler werden integriert, und wissenschaftlich korrekt gekennzeichnet – und sein kritisches (so möchte ich es gerne nennen, weil es in der gegenwärtigen Literatur leider viel zu selten anzutreffen ist) Vermögen – Verirrungen und Entartungen der Zeit einzufangen, weiterzudenken und ins Unermessliche/Absurde zu steigern, ohne dass den betreffenden Texten die Zuschreibung Science Fiction anzuhängen wäre; in dieser „Übersteigerung“ findet sich vielmehr immer mehr Wirklichkeit, als lieb sein könnte.
Nebenbei aber immer das, was am Ende nicht mehr auszuhalten war: eine unüberwindbare Depression, die in seinen Texten ab und zu anklingt – und schon wieder sein Hauptwerk: eine solche Zustandsbeschreibung habe ich noch nirgends gelesen; mir hat es die Sprache verschlagen und, auch wenn das zu kitschig klingen mag, die Tränen in die Augen getrieben, weil endlich mal Worte gefunden wurden für ein Phänomen, was immer öfter öffentlich diskutiert wird – und am Ende zu seinem Suizid geführt hat. Aber auch da noch eine (tragische) Geschichte: er setzte das Antidepressivum ab, „[…] weil der das Gefühl hatte in seiner Schreibpersönlichkeit zu sehr eingeschränkt zu werden. […] Er wollte wieder zu einer gewissen Freiheit des Geistes zurück und dann setzte eben dieser Effekt ein, dass kein anderes Antidepressiva anschlug, seine Ärzte haben versucht, das selbe Mittel wieder anzusetzen, auch das funktionierte nicht mehr – das ist in der Psychiatrie ein bekanntes Phänomen, es kann einfach passieren, sie leben jahrelang glücklich und zufrieden mit einem Mittel, setzen es ab, setzen es wieder an und es verliert seine Wirkung. Und das ist das Tragische, das zu seinem Tod geführt hat“ (Wasser-Prawda, Januar-Ausgabe 2012). Seine Frau fragte ihn am 12. September 2008, ob sie ihn für zwei Stunden allein lassen könne, er bejahte. Er druckte den bisher fertiggestellten Teil seines Manuskripts des Pale King – der bis dato schon in verschiedenen Zeitungen erschienen war – aus und erhängte sich auf dem Dachboden.