Jeder, der damals schon gelebt hat, hat seine eigenen Erinnerungen an den 9.November 89. Die verschiedenen kleinen Erinnerungen daran ergeben vielleicht eher ein echtes Bild vom Ende der DDR als laut inzenierte Feiern und offizielle Feierlichkeiten.
Wann beginnt die Wende? Wo fängt sie an für mich, das echte Aufbegehren und Einmischen anstatt des heimlichen Lästerns. Wahrscheinlich irgendwann im Sommer 89. Damals, als wir – eine Gruppe von Theologen – im Pfarrhaus von Altwarp nicht nur theologisch arbeiteten, sondern auch überlegten, wie man der Allmacht der FDJ an der Uni etwas entgegen setzen könnte.
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Erst langsam und dann immer schneller rollte die Flüchtlingswelle aus der DDR in Richtung Ungarn – Prag – Warschau und von wo man auch immer noch Chancen sah, in den Westen zu kommen. Für mich war das nie wirklich eine lockende Variante. Doch dass dieser Staat endlich paar Veränderungen brauchte, damit ich mich hier zu Hause und gebraucht fühlen könnte, das war mir schon klar.
Und es wurde immer deutlicher, wenn man in solchen Rückzugsorten für selbstdenkende Bürger wie dem Freistaat Kuwalk in Diskussionen geriet. (Diesen Freistaat auf der Grenze im Niemandsland zwischen zwei Bezirken und heute zwei Bundesländern muss man wahrscheinlich erläutern. Das Dorf Kuwalk bestand damals nur noch aus einem Gehöft, wo der Maler und Grafiker Götz Schallenberg wohnte. Hier trafen sich nicht nur Künstler sondern auch Musiker und alle möglichen anderen Leute, denen es nichts ausmachte, für freies Essen etwa die Scheune anzumalen oder Beete umzugraben. Abends saß man dann zu lebhaften Diskussionen über die Zukunft der DDR oder über die Möglichkeiten von Kunst zusammen.)
Als dann der Herbst kam – die DDR hatte vergeblich versucht, der Flüchtlingsströme Herr zu werden und schließlich gar die Grenzen zur CSSR geschlossen zum 40. Jahrestag – gingen die Leute überall auf die Straße. In Plauen etwa. Doch ich war nicht dabei damals. Denn wir waren mit Leuten aus unserer ostfriesischen Partnergemeinde dabei, die Trümmer der eingestürzten Kirchenruine in Triebel zu beseitigen.
Nur in Greifswald ging erstmal nichts. Hier ging alles etwas ruhiger los. Denn die offizielle pommersche Kirche achtete darauf, ihr Verhältnis zu den Behörden nicht zu gefährden. Doch in der Studentengemeinde trafen sich Sympathisanten der neugegründeten SDP, die Unabhängige Studentenschaft Greifswald wuchs immer weiter und brauchte für ihre Versammlungen schließlich immer größere Hörsäle und bildete jede Menge Arbeitskreise, um quälende Probleme wie etwa die unerträgliche Situation in den Wohnheimen anzufassen.
Und so weit waren wir am 9. November. Wir saßen in der Makarenkostraße und debattierten. Wirkliche Lösungen fielen uns zwar nicht ein, aber zumindest suchten wir erst mal nach nem Überblick über die Lage in den verschiedenen Wohnheimen. Besonders eklig war nicht etwa nur der öffentliche Duschkeller in der Beimlerstraße 9, nein – auch die eigentlich wesentlich jüngeren Heime in der Makarenkostraße spotteten hygienisch gesehen mittlerweile jeglicher Beschreibung. Doch dann kam jemand in die Sitzung mit der Bemerkung: Die Grenze ist offen. Die Debatte verflachte ziemlich schnell nach einer Phase der Ungläubigkeit.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war das Wohnheim völlig ausgestorben. Auch in der Fakultät war nicht wirklich was los. Alle waren schon unterwegs nach Berlin oder zumindest zur Polizei, um sich ein Visum zu holen. Was war das jetzt? Der letzte Versuch des ZK, die ewigen Nörgler loszuwerden, um dann im alten Trott weiter machen zu können? Ein vorläufiges Vorspiegeln von Reisefreiheit, das man wieder abschaffen kann, wenn die Ausreisewilligen gegangen sind? Und wenn nicht – auf jeden Fall das Ende der Revolution, wie wir sie wollten. Denn plötzlich waren die Themen unwichtig geworden für die Menschen – was ist Mitbestimmung gegenüber Begrüßungsgeld?
Mein Kumpel und ich gingen also erst mal eine Freundin besuchen, um zu schauen, was man mit dem Tag anfangen könnte. Nach Stralsund fahren etwa, um einen gehörigen Anlauf für die Tour nach Berlin zu nehmen. Denn das war schon klar: wenn wir schon in den Westen fahren, dann wird das ordentlich zelebriert. Dann braucht man dafür die passende Garderobe (wir entschieden uns für den zeitlosen Chic der 20er Jahre) und die stilvolle Beförderung (also erste Klasse sitzend in der Nacht, statt stehend tagsüber). So kamen wir also – nur mein Kumpel hatte ein Visum – am 11.11. in Berlin an und kamen auch über die Grenze.
Das Chaos war unübersichtlich. Es machte anfangs einfach keinen echten Spaß. Und so fuhren wir durch bis nach Wannsee, wo wir erst mal das Begrüßungsgeld abholten. Wenigstens dort waren die Schlangen noch nicht so lang. Und dann – immer noch im Anzug – gings weiter in Richtung Kuhdamm. Wo wir auch bald anfingen, die hundert Mark auf den Kopf zu hauen. Eine Kneipentour für viele Stunden entwickelte sich. Höhepunkt sicherlich die Klokneipe in der Nähe der Kantstraße, wo wir pisspottweise Bier vernichteten und Debatten mit schwedischen Touristinnen und westdeutschen Spontanreisenden führten. Irgendwann zogen wir los und suchten als Andenken noch paar Stückchen Mauer – recht erfolglos. An Hämmer oder Meißel hatte an dem Wochenende kaum jemand gedacht. Nur die Westberliner hatten schon angefangen, erste Löcher zu hämmern. Und sie ließen sich auch nicht von unseren Beschwerden über die Vernichtung von Volkseigentum davon abhalten. Selbst die Grenztruppen schauten dem Abriss und der stückchenweisen Vermarktung ihres Objekts einfach zu.
Überhaupt: Die Besatzungstruppen in Berlin könnten ein eigenes Kapitel wert sein. Je nach dem Grenzübergang konnte man entweder guten Kaffee bekommen (bei den Franzosen, natürlich!), guten Tee bei den Engländern und mittelmäßige Getränke aber dafür frischen Apfelkuchen bekam man bei einem amerikanischen Posten. Und Beate Uhse begann damit, ihre Kataloge unter die Massen zu schmeißen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wobei man im Rückblick sagen muss, dass die erste Befürchtung: Die Revolution wie sie ursprünglich begonnen hatte, war wirklich zu Ende. Die Losungen auf den Demonstrationen änderten sich. Plötzlich schwenkte alles um auf Themen deutsche Einheit und Währungsunion. Alles andere – selbst die Runden Tische in den Kommunen – waren demgegenüber nur noch Randnotizen, deren Ergebnisse nicht mehr wirklich ernst genommen wurden.