Mit seiner Polemik „Neue Lyrik – Neue Inkompetenz“ hat der Dichter und Erzähler Martin Mollnitz einen Frontalangriff auf die deutsche Lyrikszene gestartet. Um zu verdeutlichen, was der Autor unter wirklich zeitgemäßer Lyrik versteht, veröffentlichen wir hier erstmals vier Gedichte, die die Breite seinex lyrischen Schaffens aufzeigen.
Frau Ilse Irrke, Jg. 1936, Kuhsdorf, Ostprignitz
Vater prügelte. Alle.
Gerade Mutter. Ist ja klar.
Denn wir heulten nicht mehr.
Den Hund, nur aus Wut,
wickelte er in Maschendraht,
schnürte zu und ließ ihn verdursten,
verhungern in der steifgerosteten Rolle.
Die Köpfe unter die Kissen gepreßt,
die Ohrmuscheln eingeklemmt,
hörten wir kalt aneinandergeschwitzten Schwestern
trotzdem sein leiser werdendes Wimmern,
wenn Mama gerade nicht aufschrie.
Später kamen Raben und pickten vom Fleisch,
raubten als erstes die toten Augen,
hieben dann Löcher ins räudige Fell.
Aber Weihnachten war Papa der Beste:
Ein Kästchen mit Äpfeln und Nüssen
gab’s für jeden von uns. Mutter sogar
bekam einen Schluck Branntwein
und schüttelte sich so lustig.
Noch oft stehe ich, heute
weggeschnitten, weggeschmissen die Zöpfe,
hinter der Scheune, dort,
wo er den geschundenen Hund eingrub.
Ein so verdammt armer Hund!
Tristesse
Die Fotoalben verschlossen, die Fragen offen.
Kalte Progression einer Lebensverspätung.
Nur die Kredite laufen noch. Und die Glotze.
Erstarrung im Terrarium, verstummte Intimfeindschaft in der Sitzgruppe.
Flacher Stoffwechsel hinter Glas. Stilleben mit Couchtisch
und Flachbildschirm: Lausiges Abendprogramm
vorm Quartalsex, kußfreie Kopulation, Mühsal im Satin,
erektionsschwache, ejakulationsreduzierte Begegnung,
während der sie die Astlöcher an der Wandschräge zählt.
Inwendig leise rieselnder Ekel. Taube Keime, blind verwimmelt.
Immer beim Aufschneiden von Mortadella denkt er an sie,
helles Brät im eigenen Saft, Naturdarm oder Schweinsblase,
mürbes Drüsenfleisch, jahrzehnteschwer abgehangen.
Alter ist der Abstand von einem fremden Land,
sagenhaft, zu dessen Entdeckung man aufbrach,
so wie zum Baggersee mit den Mopeds im Mai.
Paul, der ertrank, um den die Mutter sich wundschrie,
der mag als einziger dort wohl angekommen sein.
Hinter Dallmin/Westprignitz
1.
Von hier war’s keine Meile mehr aus Preußen heraus,
der Dambecker Kirchturm schon Mecklenburg.
Von jeher endet Brandenburg an der Klüßer Kuhtrift,
so schlicht, wie es irgendwo anders begann:
Ein Schwarm junger Stare als feiner kalligraphischer Schwung
über der dunstenden Karwe, der Grenze, nicht ganz Fluß,
gerade noch Bach, aber grätige Döbel drin, die man
mit schwimmenden Heupferden auf Schluckhaken fängt.
Man weiß, der junge Drachmann ertrank hier, besoffen
vom Rad gestürzt, die Brücke herunter, im Januar, nachts.
Fast ein Kunststück, da zu ersaufen, grinst Eppis Stammtisch.
Der junge Drachmann soff von jeher, sagen die einen.
Aber nur drei Prellsteine dort, kein Geländer, die andern.
Nicht das bißchen Wasser ist schuld, auch nicht der Suff,
allein der verdammte Kahlfrost, wissen die alten Kumpels:
Wie Wilhelm Buschs Eis-Peter trugen sie die Leiche
zur Mutter nach Haus’, sogar den Drahtesel zogen sie raus
damit fährt die Alte heut’ noch täglich zum Bäcker.
2.
Namenloses Niemandsland fernen Horizonten
von Gletschern sanft entgegengestrichen.
Pleistozäne Einsamkeit: Als zerzaustes Nest
der dunkle Hökerbusch in den Wiesen,
wo früher die Schmuggler sich bargen, aber
längst keine Blinkzeichen mehr aus der Blendlaterne,
nirgendwo Männer, in dunklen Mänteln geduckt
über durchweichter Konterbande, klamm sich eilige Groschen
in fingerfreie Handschuhe zählend, nur noch hartes Gestrüpp,
das einer Wildsauenrotte gehört, irgendwo im Moder
die alte ergiebige Halimaschstelle, körbeweis abzuernten
für sauer eingelegte Pilze im Winter. Pikant, sehr pikant
zu einer Pfanne Bratkartoffeln am Abend.
Aber Vater kam ab und an hin, schnitt junge Esche,
um Spaten, Hacken, Äxte aufzustielen, die dann
noch länger hielten als sein zähes Prignitzer Leben.
Breschnews Tod
1.
Letzten Samstag stand er noch, der große Tote,
auf der hohen Tribüne, voller Verbundenheit
zur Revolutionsparade zaghaft die greise Hand hebend,
aufrecht mit Pelzmütze im Eiswind überm Roten Platz,
Stalins einst schönster Moldawier.
Der Kreml, was für ein verschwiegener Ort! Aber
schwarze Tschaika-Limousinen brausen
durchs hohe Tor, erstarrt salutieren die Wachen.
Die Innenstadt abgeriegelt, das Politbüro, geschlossen,
tagt im Gästehaus auf den Leninbergen.
Ein Galakonzert der Polizei im Fernsehen abgesagt!
Weshalb nur? Plötzlich wird Beethoven gespielt.
Gewißheit genug. Während alle Fahnen
wie von selbst auf Halbmast sinken,
ist TASS ermächtigt mitzuteilen:
den Anfang vom Ende. –
Zum erstenmal schweigen selbst die Sirenen…
2.
Wir aber stehen grau in grau beim Morgenappell,
Einberufung November ’82, die Uniformen ungedient steif,
ein Ausbildungsregiment, so trist wie ein Knast,
eben auf den Schießplatz befohlen: Stillgestanden!
Hände vom Sack! In Dieselwolken fährt gerade
das Marschband auf, aber dann – Kommando zurück! Treppe hoch!
Waffen abgeben! –, rücken wir im Fernsehraum ein,
für die beiden gemütlichsten Stunden des Herbstes:
Eine Leiche im Anzug mit Leninorden
im Gewerkschaftshaus, Karl-Marx-Prospekt,
der Trauermarsch von Chopin,
die Totenwachen mit gefrornem Gesicht.
Wispernd einer: Stecken sie den nun
auch ins Mausoleum? Ein anderer, gezischt:
Quatsch, da ist endgültig voll!
Ruhe da hinten!, von vorn.
Wir drücken uns an summende Heizungsrohre,
einer kritzelt schnell seinen Brief auf den Knien,
Kassiber ins draußen liegengelassene Leben zurück.
Wir strecken uns wie Kater am Ofen,
lassen die Glieder knacken und hoffen,
der Politikoffizier vorn hat Befehl,
bloß die Glotze schön laufen zu lassen
und die Schlange der trauernden Sowjetbürger
reißt mindestens heute vormittag nicht ab,
ein ruhiges Defilee, das uns einschließt und wärmt,
so märchenhaft, im ersten von drei Armeewintern,
sieben Jahre vorm Ende des großen Dienstes,
während auf dem Schießplatz heute schon
über alle Bahnen die weite Stille sich dehnt.