Judith Zander: Dinge, die wir heute sagten. dtv 2010, 480 Seiten, 16.90 €.
In die Provinz zu gehen und mit einem avantgardistischen Anspruch über die Verhältnisse aus der Perspektive eines Großstädters zu reflektieren, ist derweil nicht sonderlich originell.
Moritz von Uslar hat es in seiner ‚Teilnehmenden Betrachtung’ namens „Deutschboden“ hinlänglich bewiesen; mit all den strapazierenden Empathieversuchen, die sich ohnehin einstellen, wenn man Menschen ausgeliefert ist, mit denen man sich – auch nur aus Recherchezwecken – auseinandersetzen muss. Aber was ist mit den Kindern, die wirklich aus dem Nichts stammen und dieses mit Sinn füllen müssen, um dem Leiden einen Namen geben zu können und somit halbwegs erträglich? Was ist mit denjenigen, die dabei waren, aber nicht mitmachen wollten und konnten? Mit den armen Schweinen, die in den Käffern aufgewachsen sind, an denen wir nur vorbeifahren und nur eine Idylle wahrnehmen wollen, da wir instinktiv wissen, was sich hinter hier verbirgt. Die Rede ist von denen, die die Grenzen ihrer Welt erkannten, aus realpraktischen Gründen nicht hinaus kamen und sich im Endeffekt eine eigene Welt konstruieren mussten. Es gibt nicht viele Fluchtpunkte; Literatur kann dieses Manko aushebeln, bietet Heimat, die wir nicht in geographisch verordnen müssen, sondern behaupten können, dass sie ein Gefühl ist.
Die 1980 in Anklam geborene und derzeit in Berlin lebenden Autorin Judith Zander legt in ihrem Romandebüt „Dinge, die wir heute sagten“ das Porträt eines solchen fiktiven pommerschen Provinzdorfes namens Bresekow vor, für das sie einige Aufmerksamkeit und zwei Preise erntete: den Preis der Senicure Landsdorf 2010, sowie den 3sat-Preis bei den 34. Tagen der deutschsprachigen Literatur. Darüber hinaus wurde das Buch im August vergangenen Jahres für den Deutschen Buchpreis nominiert. Bereits vor ihrem Roman war sie schriftstellerisch tätig, übersetzte englische Texte und schrieb Lyrik, die ebenfalls nicht unbeachtet blieb; bereits 2007 erhielt sie den Lyrikpreis beim 15. open mike der Literaturwerkstatt Berlin und den Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis beim Literarischen März 2009. Zander studierte Germanistik, Anglistik und Geschichte in Greifswald, später am Literaturinstitut Leipzig.
Ihre Beschreibung vom Dorf Bresekow ist unerbittlich:
„Mittendrin der Eingang zur Hölle. Es ist nicht die Kneipe, wo ‚der Teufel Alkohol haust’. Es gibt keine Kneipe in Bresekow. Es gibt überhaupt nichts. Es ist das Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört. Hier liegen die verschwiegenen Orte, nachlässig verschüttet in einer Landschaft zum übersehen, flach. Ein hässliches Endlein der Welt, über das man besser den Mund hält.“
So werden die Gedanken der Zwölfklässlerin Romy, die zu einer Hauptfigur wird, entfaltet. Sie ist nicht die Einzige, die Zander zu Wort kommen lässt. Gerade dies macht die formale Gestaltung des Buches besonders: Verschiedene Personen, Hausfrauen, Lehrer, Eltern, Asoziale, Waisen, Kranke kommen zu Wort, beschreiben in inneren Monologen und in der Auseinadersetzung mit ihren Mitmenschen den Ort inklusive sozialem Gefüge, in dem sie leben. Selbst die Dorfgemeinschaft, ‚die Gemeinde’ genannt, als Ganzes wird wie in einem antiken Chor Aischylos’ in plattdeutscher Sprache zu Kommentatoren von dörflichen Ereignissen wie einer Beerdigung:
„Und nu kricht se dat Haus oder wat dat Haus von Anna Hanske Na si doch ehr Mudder öwwer Peter wat is mit em denn nu Wat will die den mit dat Haus wenn se da in England nu wohnt.“
Aus all den reflektierenden Versatzstücken ergibt sich allmählich das Gesamtbild von Bresekow und nach einer Weile sogar ein erkennbarer Plot, während es sich zunächst nur um isolierte Einzelbetrachtungen zu handeln scheint, die sich anfangs nicht recht in ein Gesamtgefüge einordnen lassen wollen. Zander besitzt hier ein umfangreiches Gespür für die einzelnen Figuren, denen sie mit der sprachlich weit auseinandergehenden Darlegung ein hohes Maß an Authentizität zukommen lässt. Durch Umfang und Häufigkeit des Auftretens erst kristallisieren sich die Protagonisten Romy und Ella heraus, die in einer Distanz zu dem Dorftreiben leben, wenn z.B. Romy über den dörflichen Treffpunkt namens ‚Elpe’ konstatiert: „Auf der Elpe treffen sie sich, allabendlich. Auf der Elpe bauen sie Scheiße, auf der Elpe machen sie sonst was. Auf der Elpe saufen sie. Auf der Elpe kiffen sie. Auf der Elpe drücken sie sich und hängen unerschütterlich dem Glauben an, ihre Zungen seien dazu da, sie sich gegenseitig in den Rachen zu stopfen. Es kreischen die Mädchen auf der Elpe, die Jungs teilen gerne aus. Auf der Elpe gibt’s Sauren Appel und Kloppe. Auf die Elpe geh ich nicht. Nein, meine Suppe ess ich nicht. Das ist nicht mein Bier, was da passiert, was da verschüttet wird.“
Und gerade durch die Tatsache, dass Zander ebenfalls Menschen von jenem mysteriösen Jugendtreffpunkt, der in der klischeehaften Vorstellung von Dorf nicht immer die Bushaltestelle sein muss, ebenfalls ein Rederecht in ihrer eigenen Sprache zugesteht, entsteht das oben beschriebene Kompendium. Der Anführer Ecki hat somit eine unterkomplexere Perspektive, was sich sprachlich dann auch niederschlägt:
„’Schnauze!’ sag ick, ‚Schnauze, Mann! Fick dich doch, Börner! Glaubste, ick will wat von der flachen Fotze, eh, an der is doch gar nix dran. Gib ma dein Bier her, Toffi!“
Somit gestattet die Autorin – am Beispiel der Elpe vorgeführt – nicht nur den Blick auf diesen Ort, vielmehr wird auch eine Innenperspektive mit lauter Nischen, Winkel, Sackgassen, Nebenräumen entfaltet, die den Leser eingangs viel Geduld abverlangt, ihn dann aber später mit jener Welt verwachsen lässt, in der man nicht einfach, nur weil man angenervt ist, in eine S-Bahn ein– und drei Stationen später wieder aussteigen kann. Eine Welt voller Abgründe, unausgesprochenen und doch hinlänglich bekannten Geheimnissen, Geschwätz, latenter oder offen zu Schau getragener Aggressivität, Neid, Häme, Kuhmist und Flachland. Ein wenig Selbstironie scheint auch mitzuschwingen, wenn Ella über den wie ein exotisches Tier nach Bresekow gekommenen Iren Paul sinniert:
„Manchmal schockiert mich das, also, die Wirklichkeit, aber positiv. Ich meine, das gehört ja wohl wieder eindeutig zu den Dingen, die man zum Beispiel in einem Roman oder so niemals bringen könnte, weil sie einfach – naja, zu romanhaft wirken…“
Diese Rezension entstand für die Literatursendung "Plattform" auf radio 98eins.