Die Wende in Greifswald begann offiziell mit dem ersten Friedensgebet am 18. Oktober. Doch schon vorher hatten sich Menschen organisiert und begannen sich politisch zu engagieren.…
Es ist Sonntag, der 11. Juni. Die Greifswalder Innenstadt ist zum Potemkinschen Dorf geworden. Baufällige Altbauten, die nicht mehr rechtzeitig abgerissen werden konnten, wurden bis in Blickhöhe neu angestrichen und mit Gardinen versehen. An anderen prangen große Schilder: Baudenkmal – Restaurierung nach 1989. Vor dem Rathaus singt eine FDJ-Gruppe. Und Erich Honecker stimmt mit seiner brüchigen Stimme ein: Bau auf, bau auf – Freie Deutsche Jugend bau auf. Jeder Schritt wird von Sicherheitsbeamten und Fernsehkameras beobachtet. Der Staatsratsvorsitzende als Gast bei der Einweihung des Greifswalder Doms? Ein Politikum sondersgleichen. Und ein Streitpunkt für Christen in der pommerschen Kirche und der gesamten DDR. Gesprächsrunden gab es im Vorfeld, wo nicht nur die Domsanierung an sich, sondern vor allem auch die allein durch den damaligen Bischof Horst Gienke ausgesprochene Einladung an Honecker kritisiert wurde.
Der Unmut staute sich im Sommer weiter. Doch die Debatte erweiterte sich ins Politische. Der damalige Studentenpfarrer Arndt Noack etwa engagierte sich bei der Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR, gehörte auch zum ersten Parteivorstand und sprach später direkt vor Willy Brandt, als sich die Sozialdemokraten aus Ost und West vereinigten. Studenten gründeten zunächst im Untergrund, doch dann öffentlich mit der Unabhängigen Studentenschaft eine Konkurrenz gegen die an der Universität allmächtige FDJ.
Doch während südlich vom Bezirk Rostock im Herbst Friedensgebete und wöchentliche Demonstrationen üblich waren – und nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR zunehmend friedlich abliefen, herrschte im Norden Ruhe.
Der damalige Superintendent Heinrich Wackwitz erinnert sich, dass er von Eltern von Konfirmanden gefragt wurde, warum es das in Greifswald nicht gibt. Daraufhin rief er eine außerordentliche Besprechung der Pfarrer der Stadt zusammen, wo man für den 18. Oktober ein erstes Friedensgebet im Dom plante. Allerdings versprach er gleichzeitig den Vertretern der Stadt, dass es dort keine politischen Äußerungen geben solle. „Auf der
einen Seite hatte ich keine große Beteiligung erwartet, auf der anderen Seite hatte ich nicht wenig Angst vor dem damals bei uns im Norden noch recht gut funktionierenden Staatsapparat. Diese Furcht zeigt sich auch in meiner Ansprache in einem geradezu ängstlichen Festhalten an biblischen Zitaten.“ Ein politischeres Gebet hatte Wackwitz kurzerhand untersagt.
Er hatte aber nicht damit gerechnet, dass nach dem Gottesdienst im vollen Dom öffentlich der Gründungsaufruf des Neuen Forums verlesen wurde. Vorher war die Meldung vom Rücktritt Honeckers verbreitet worden. Als das Gebet im Dom zu Ende war, formierte sich tatsächlich ein Demonstrationszug von mehreren tausend Menschen mit vorbereiteten Plakaten und Spruchbändern, der mehrere Stunden friedlich durch die Stadt zog. „Knisternd wurde die Situation am Schluß.“, erinnert sich Wackwitz. „Der Demonstrationszug schwenkte wieder Richtung Rathaus. Die Menschen verlangten nach Diskussionen über die anstehenden gesellschaftlichen Themen. Aus dem Rathaus erschien der Oberbürgermeister und seine Stellvertreter, im Hintergrund vor der Post waren schwer erkennbare, aber offenbar schwer bewaffnete Leute zu sehen in drohend abwartender Haltung.“ Im Gespräch mit Vertetern der Kirche wurde für den nächsten Abend eine öffentliche Diskussion in der Mensa vereinbart.
Als in den nächsten Wochen auch den staatlichen Behörden klar wurde, dass die eingeleiteten politischen Veränderungen unumkehrbar wurden, versuchten sie Beweise für politische Verbrechen in großem Stil zu vernichten. Tagelang flogen etwa Aschewolken aus den Schornsteinen der Kreisdienststelle für Staatssicherheit durch die Altstadt. Bergeweise wurden Akten verbrannt, bis am 4. Dezember in einer spontanen Aktion Freiwillige nicht nur die Stasi sondern auch die Kreisleitung der SED und das Rathaus besetzten. Vollkommen ohne Gewalt hatten sich die Behörden in ihr Schicksal ergeben. Tag und Nacht saßen in den nächsten Tagen die Freiwilligen in den Dienststellen und sorgten dafür, dass keine weiteren Unterlagen vernichtet werden konnten. Panzerschränke und Reißwölfe wurden von Staatsanwälten versiegelt, auch beim Rat des Kreises. Dort hatte man begonnen, die Akten der gefälschen Kommunalwahl vom Mai 1989 zu verbrennen.
Heute ist von dem politischen Überschwang der damaligen Zeit bei den Beteiligten kaum noch was zu spüren. Noack etwa, der kein Interesse daran gehabt hatte, eine Parteikarriere anzustreben, ist Pfarrer in Benz auf Usedom. Die Arbeit in der Gemeinde ist ihm heute so wichtig, dass er kaum Zeit findet, über seine Erinnerungen zu sprechen. In dem kleinen Dorf hat er in den letzten Jahren einen Kindergarten und eine Grundschule mit aufgebaut. Und er hat die von Vorgängern begonnenen Kulturveranstaltungen in der Kirche fortgesetzt. War zu DDR-Zeiten bei Geheimkonzerten in Benz etwa Konstantin Wecker aufgetreten, so konnten in diesem Jahr Musiker aus Berliner Orchestern ebenso wie Jazzer aus ganz Europa in der Kirche auftreten.