Im Rahmen einer Themenwoche zu sozialen Fragen auf dem Greifswalder Lokalsender radio 98eins unterhielt sich Kristin Gora für die Literatursendung Plattform mit der Literaturwissenschaftlerin und Bloggerin Elke Brüns.
Plattform: Auf deinem Blog www.gespenst-der-armut.de schreibst du schon seit einiger Zeit über das Phänomen Armut in allen gesellschaftlichen Bereichen. Armut – Was ist das eigentlich?
Elke Brüns: Es gibt verschiedene Begriffe von Armut. Allgemein wird unter Armut ein Mangelzustand verstanden, obwohl es historisch gesehen auch Formen von Armut und von Askese gab, die mit positiven Konnotationen versehen waren. Aber heutzutage und im allgemeinen Verstande versteht man Armut eben als eine Mangellage.
Man kann ganz grob und grundsätzlich unterscheiden zwischen der relativen Armut und der absoluten Armut. Absolute oder extreme Armut, wie sie in anderen Teilen der Welt vorkommt, also in Dritte-Welt-Staaten beispielsweise, wird dadurch definiert, dass jemand am physischen Existenzminimum lebt. Durch die Weltbank wird das in einem Geldwert ausgedrückt. Das sind 1,25$ pro Tag und wenn man das nur hat oder darunter fällt – das tun 1,2 Mrd. Menschen auf dieser Welt – dann lebt man in absoluter Armut. Relative Armut ist die Armut, die wir hierzulande und in Europa haben. Das wird zumeist als Einkommensarmut gemessen und bedeutet, dass man unterhalb der 60% Schwelle des Durchschnittseinkommens liegt. Und um sich das vielleicht mal vorzustellen: Aktuell liegt die Armutsschwelle bei 925 € Nettoeinkommen für einen Single, für einen Alleinstehenden, und wenn man darunter liegt, dann ist man arm. Konkret sind das aktuell 11,5 Mio. Menschen in Deutschland und das sind 14% der Bevölkerung.
Plattform: Warum ist es dir wichtig darüber zu schreiben?
Elke Brüns: Armut betrifft die ganze Gesellschaft, auch wenn es nicht alle konkret betrifft, aber die Gesellschaft als Ganzes ist davon betroffen und wenn, wie aktuell, es große Ängste gibt vor dem sozialen Abstieg, dann entstehen auch sehr viele Konstruktionen dessen, was Armut ist. Wir haben z.B. im Moment eine Unterschichten-Debatte, die ganz stark auf Konstruktionen beruht. Das heißt, Leute, die arm sind, die werden als faul und verfressen und nur vor dem Fernseher herumhängend vorgestellt und das hat natürlich dann einfach weniger mit dem Einkommen zu tun als damit, wie wir uns Armut vorstellen. Und diese Art kulturelle Konstruktionen von Armut, die werden eigentlich überhaupt nicht untersucht. Man orientiert sich immer an sozialwissenschaftlichen Kategorien. Mir ist es als Literaturwissenschaftlerin wichtig, eben diese Art von Konstruktionen, mit denen wir jeden Tag zu tun haben, auseinander zu nehmen. Dazu gibt es noch sehr wenig.
Plattform: Auf deinem Blog setzt du dich jedoch nicht nur mit Literatur auseinander sondern z.B. auch mit Musik. Wie nimmst du diese Phänomene dort war und wie werden sie letztlich in Musik und Literatur umgesetzt?
Also in der Musik ist es so, dass das eigentlich sehr offensiv angegangen wird und sehr spöttisch und sehr ironisch. Wenn ich an einen Song denke wie „Dicht bei der Unterschicht“ von Ralph Gerstenberg, dann ist das schon sehr spöttisch und sehr ironisch anders als vielleicht in der Literatur, die sich da so oder so bislang noch relativ bedeckt hält, was die Erforschung von Armut angeht.
Ich denke mittlerweile kann man schon so einen Trend erkennen, dass die Literatur das wieder aufgreift. 2005 z. B. hat das Büchermagazin mal die Frage gestellt, warum sich Schriftsteller so wenig damit beschäftigen, wir hätten immerhin 5 Mio. Arbeitslose – also damals lag die Zahl noch bei 5 Mio. – und die Armut würde steigen. 2005 war das so zu sagen überhaupt noch eine Frage. Man kann aber schon sagen, dass in den letzten Jahren da einiges entstanden ist und die Texte, die da entstehen, entstehen sehr häufig im Kontext einer veränderten Arbeitswelt, die durch Präkarisierung und so weiter geprägt ist. Das heißt, da gibt es Unsicherheiten in den Arbeitsverhältnissen, mithin auch in den Lebensverhältnissen und da wird es dann interessant, da droht die Armut immer im Hintergrund, denn wenn man seinen Job verliert, dann hast du eben noch ein Jahr lang Arbeitslosengeld und dann landest du bei Hartz 4. Und das ist vielleicht heutzutage das Synonym für Armut geworden.
Plattform: Gibt es noch andere Themen, andere Sujets, die benutzt werden, um das Soziale in der Gesellschaft näher darzustellen, zu dem die Armut gehört?
Elke Brüns: Wie gesagt, es gibt eigentlich nicht so wahnsinnig viele Texte. Da gibt es zum einen diese Arbeitswelt-Texte, in denen Romane wie Annette Pehnts „Mobbing“ oder Rolf Dobellis „Und was machen sie beruflich?“ angesiedelt sind.
Dann gibt es aber auch Texte wie die von Clemens Meyer. Die Kurzgeschichten „die Nacht, die Lichter“, wo das, was heutzutage Unterschicht genannt wird, also soziale Verlierer, Menschen am Rande der Gesellschaft (eine andere Theorie würde vielleicht von Exklusion sprechen), dargestellt werden und wo das vielleicht auch an Bukowski oder so etwas anknüpft.
Oder auch ein Roman wie der von Kirsten Fuchs „Die Titanic und Herr Berg“, wo eine Sozialhilfeempfängerin sich in ihren Sachbearbeiter beim Sozialamt verliebt und wo das Ganze dann als so eine Art grotesk-erotischer Roman dargestellt wird. Also man kann das dann auch in die Geschlechterverhältnisse verlegen.
Oder man geht an einen traditionellen Armutsschauplatz wie London, wie Katharina Hacker das in „die Habenichtse“ gemacht hat, und konfrontiert das auch als Problem einer Generation. Ihre Protagonisten ziehen nach London, sind eigentlich gut situiert und so weiter, sehen das soziale Elend um sich herum, können aber irgendwie nicht reagieren. Sie sind eigentlich völlig unfähig in irgendeiner Art und Weise auf soziale Realitäten zu reagieren und das beschreibt Katharina Hacker als eine Art Generationenportrait.
Plattform: Du hast gerade schon die Ironie angesprochen als eine Art und Weise mit diesem Thema in der Literatur umzugehen. Gibt es andere spezielle Schreibweisen, die sich entwickelt haben oder die besonders gerne benutzt werden um solche Dinge darzustellen.
Elke Brüns: Also was es auf jeden Fall nicht gibt, erstaunlicherweise, ist vielleicht die Anklage. Also das, was man ja vermuten könnte. Dass Armut angeklagt wird, dass es dramatische Szenarien oder so etwas gibt, ist mir nicht bekannt oder ist zumindest keine Tendenz.
Es gibt vielleicht tatsächlich ein starker Hang dazu, das ironisch darzustellen. In dem Hörspiel von Stefan Weigl „Stripped – ein Leben in Kontoauszügen“, für das er den Hörspielpreis 2005 bekommen hat, ist das ja auch der Fall. Es sind eher schon entweder groteske oder auch sehr sachliche, kühle Schreibweisen, wie sich das vielleicht bei Katharina Hacker auch zeigen lässt.
Plattform: Zum Schluss würde ich gerne noch mal fragen, wie nun dein spezielles Interesse als Literaturwissenschaftlerin an dem Thema ist. Du hast den von dir herausgegebenen Sammelband „Ökonomien der Armut – soziale Verhältnisse in der Literatur“ mit einem Plädoyer für einen Sozial-turn in der Literaturwissenschaft eingeleitet. Welchen Beitrag kann explizit die Literaturwissenschaft in diesen Debatten leisten bzw. worin siehst du jetzt deine Aufgabe?
Elke Brüns: Gerade weil Armut auch eine kulturelle Konstruktion ist, sind wir doch eigentlich aufgerufen – als diejenigen, die sich mit solchen Konstruktionen von Berufswegen beschäftigen – diese auch mal anzuschauen und auseinanderzunehmen. Und da sehe ich eben einen großen Beitrag, den wir als Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler leisten könnten. Ich glaube, wenn man das Feld „nur“ den Sozialwissenschaftlern überlässt, dann würde man eine sehr wichtige Dimension von Armut nicht verstehen und das sind genau die Dimensionen, die auch kulturell wirksam sind und die möglicherweise auch dazu führen, dass sich Armut einfach immer weiter fortsetzt, gerade weil wir das nicht auseinandernehmen und gerade weil wir das deswegen nur zur Hälfte begreifen.
Was ich konkret mache: Ich schaue mir Texte an und versuche Texte wieder zu kontextualisieren. Das heißt, ich verwende jetzt nicht irgendwie sozialgeschichtliche Ansätze aus den späten 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, sondern ich versuche mit kulturpoetischen Verfahren (wie etwa Stephen Greenblatt) oder mit diskursanalytischen Verfahren, wie sie Foucault entwickelt hat – die jetzt natürlich keine literaturwissenschaftlichen sind, aber die man ja modifiziert anwenden kann in der Literaturwissenschaft – hier ein neues Verhältnis von Text und Kontext zu etablieren. Ich denke, wenn man das Soziale wieder in den Blick nehmen will – und das ist ja mittlerweile auch eine starke Forderung, die es auch wieder in den Kuturwissenschaften gibt – dann sind das z.B. Methoden, die die Richtung weisen können. Es wird ja debattiert momentan gerade in den Kulturwissenschaften und auch in der Literaturwissenschaft, wie man aus diesen Verengungen auch rauskommen kann, die diese Verfahren oder Methoden im Gefolge des Linguistic-turns nach sich gezogen haben. Also dekonstuktivistische, poststrukturalistische und andere Verfahren. Wie man eigentlich dazu kommt, wie man es schaffen kann, Text und Gesellschaft, Text und Kontext, Text und das Soziale wieder in ein Verhältnis zu setzten. Da sind ja ganze Debatten im Gange und ja, das Buch ist ein Versuch das anhand eines sehr markanten Themas und eines sehr wichtigen und brennenden Themas, wie der Armut schon mal zu praktizieren.