Billy The Kid schildert seine Erinnerungen an die Greifswalder Rockhistorie und verteidigt Nathan Nörgel gegen Leserangriffe. Bands wie Faltenrock, Saitenspringer oder die Lousy Lovers werden erwähnt. Wo bleibt das Projekt einer Greifswalder Rockgeschichte?
Mit Interesse las ich die Auseinandersetzung zwischen Nathan Nörgel und einem Leser, der den bissigen Kommentar zur Auftritt einiger Oldiebands zur Kulturnacht wohl nicht vertrug. Nun, die Vorwürfe, Herr Nörgel würde die Zukunft des Rock in den Scorpions und Tokio Hotel sehen, sind sicher unberechtigt.
Zu Tokio Hotel kann man noch nichts sagen, die Band scheint ein Teenie-Phänomen zu seien, von dem man noch nicht weiß, wie es endet. Die ersten Titel der Beatles (Love, love me do) waren auch Teenie-Schmalz; hätte die Band dann Schluß gemacht, wären sie als Vorläufer von Take That in die Popgeschichte eingegangen (dass soll aber nicht heißen, dass ich Tokio Hotel mit den Beatles vergleichen will!!!).
Noch heute kann ich die frühen Sachen der Beatles nicht ohne Grausen hören (I want to hold your hand; man muss sich nur mal die deutsche Fassung der Beatles reinziehen, dann ist man geheilt). Für die Stones galt dass im Übrigen nicht- die waren immer cool. Und die Scorpions haben trotz ihrer eher mediokren Musik zwei der besten Gitarristen der Welt hervorgebracht, Michael Schenker und Jon Uli Roth, letzterer war 2007 sogar Gast beim Auftritt der Smashing Pumpkins (immerhin die Band der 90er in der Indieszene). So schlecht können sie also nicht gewesen sein.
Aber interessant war der Vorschlag, auf dieser Website Beiträge zur Greifswalder Rockhistorie zu veröffentlichen. Als persönlicher Zeuge kann ich nur die 80er beschreiben, und das auch nur unvollständig. Aber es dürften sich noch genug Beteiligte finden, ein Teil der Musiker , die damals in Greifswald spielten, sind heute noch aktiv und finden sich unter den üblichen Verdächtigen, wenn heute Musik in Greifswald gemacht wird. Das gilt z.B. für Jörg Nehmzow (früher „Saitenspringer“, heute „Reckless“ und „John Helma“), für Michael „Baggens“ Lahmann (früher „Faltenrock“, heute Basslehrer an der Mufa und Mitglied von einigen Jazzbands wie „Jazz-up“ sowie Bassist bei den „Lousy Lovers“), überhaupt für die Mitglieder von John Helma, die zum großen Teil aus ehemaligen Mitgliedern der Band „Montezuma“ besteht (auf der Website von John Helma findet man einige Infos zur Historie). Auch Axel Schulz von den Lousy Lovers (und John Helma) startete Mitte der 80er als Liedermacher und gründete dann mit Jörg Seefeldt „Akim“, eine Folk-Rockband, aus der dann die Lousy Lovers wurden. Wieder aktiv ist Bernd Schwahn von der Basement Blues Band, der damals schon Blues mit der Band „Wurzel“ machte (einer Band aus Zahnmedizin- und Lehramtsstudenten, die öfter im Studentenclub Wurzel spielte) und später mit dem Gitarristen Aaron Schwarz, dem Bassisten Michael Lahmann und dem Schlagzeuger Antonio Kühn (die ihrerseits als „Uptown Heat“ Jazzrock spielten) zusammenspielte, 1992 die Gitarre aber für 14 Jahre an die Wand hängte. Antonio Kühn war Drummer von „Konform“, einer Band, die vom KKW (dem Atomkraftwerk in Lubmin) quasi gesponsort wurde. Eins der ersten Studios in Greifswald wurde von einem ehemaligen Gitarristen von Konform in der Neumorgenstraße eröffnet, soweit ich weiß, machten die Lousy Lovers (oder noch Akim) ihre ersten Demos dort.Ebenfalls wieder auf Tour ist Frank Geldschläger alias Speedy mit „Speedys Company“, der früher in der Band „Serum“ sang.
Als symptomatisch für den Geist der 80er, so wie ich sie erlebte, möchte ich ganz kurz die Geschichte einer Greifswalder Band erwähnen. 1980 wurden in der (mittlerweile abgerissenen) Lindgreen-Schule in Greifswald die „Saitenspringer“ als Liedermacherclub gegründet, damals eine der wenigen Möglichkeiten, staatliche Unterstützung zur Finanzierung von Bands zu bekommen. Die Band bestand aus dem Sänger Holger Stille, dem Gitarristen Gunther Lietz, dem Bassisten Jörg Schulz, dem Keyborder Hartmut Berg (betreibt heute ein Schlager-Duo und ein Tonstudio) und einem Schlagzeuger. Die Band erlangte als Schülerband sogar eine Einstufung. In der DDR mussten Musiker, um bezahlte Klubgigs zu spielen, eine sogenannte Einstufung hinter sich bringen, bei der die musikalischen Fähigkeiten (offiziell) und natürlich die politische Konformität geprüft wurden. Politisch suspekte Musiker oder auch nur solche, die dem Erscheinungsbild des sozialistischen Künstlers nicht entsprachen (früher lange Haare, in den 80er eher Punks) wurden aussortiert. Auch Bandnamen, die irgendwie dekadent klangen, wurden nicht genehmigt, ein Freund musste z.B. den Bandnamen Virus ändern, weil er den Funktionären irgendwie nicht passte. Nur zur Erinnerung- noch Ende der 70er liefen zumindest in der Lingreen-Schule Versuche, dass Tragen von Jeans zu untersagen, was nur daran scheiterte, dass eine Lehrerin mit offensichtlich spendabler Westverwandschaft selber ausschließlich Jeans aus dem Westen trug. Plastiktüten mit Werbeaufdruck (die bekam man noch in Polen-die Grenze wurde erst 1981 dichtgemacht) waren grundsätzlich untersagt. Ein einzelner Staatsbürgerkundelehrer schaffte es, dass fast die Hälfte der älteren Schüler in der paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik organisiert war. Rock wurde generell mit Misstrauen gesehen.
Es war die Zeit der Einführung des Wehrkunde-Unterrichts, der Neutronenbomben-Diskussion, der großen Konzerte wie „Rock für den Frieden“. Bands wurden politisch instrumentalisiert oder mussten sich auflösen. (Renft wurde 1976 oder 77 verboten). Die Band machte mehrere Umbesetzungen durch, die typisch waren für die Konflikte dieser Zeit- der Sänger Holger Stille war ein angepasster FDJ-Funktionär, der noch jahrelang in der Liedermacher-Szene z.B. im Umkreis des Studentenklubs Kiste unterwegs war (der von einem Teilzeit-Liedermacher namens Waldo Werner betrieben wurde).
Der Gitarrist und zweite Sänger Gunther Lietz, wahrscheinlich der beste Gitarrist, den Greifswald je hervorbrachte, war Biermann-Fan und stand konträr zum verordneten Abducken. Er sorgte dafür, dass ehemalige Renft-Songs ins Programm aufgenommen wurden, fast eine (konter-) revolutionäre Tat. Lietz machte später auch Musik für die Underground-Filmszene in Greifswald um Martin Bernahrdt, Robert Konrad und Thomas Frick. Martin Bernhardt wurde 1985 wegen „subversiver Umtriebe“ verhaftet und ins Gefängnis geworfen und beging viel später Selbstmord. Ein Teil dieser Szene wurde später in der Ausstellung „Boheme in der DDR“ in Berlin aufgearbeitet, Thomas Frick ist heute ein bekannter Filmregisseur, Robert Conrad soll einer der bekanntesten Architekturfotografen Deutschlands geworden sein. Gunther Lietz spielte als Student in einer der ersten Studenten-Jazzbands Greifswalds und studierte später Musik in Weimar. Aber schon vorher machten die politischen Konflikte seinen Austieg notwendig, etwas was in dieser kleinen Schülerband bis hin zu den großen Bands eine Folge des extremen politischen Drucks war. Die Saitenspringer sollen in anderer Besetzung (z.B. mit Jörg Nehmzow am Bass) noch bis nach der Wende aktiv gewesen sein.
Andere (nicht nur Greifswalder) Bands haben wahrscheinlich ähnliche Erfahrungen gemacht. Der kürzlich verstorbene Gitarrist von Renft/Karussell Peter „Cäsar“ Gläser spielte Anfang der 80er mit Karussell im KKH (neben dem Theater). Er spielte alleine während des Konzerts eine Version von „Lady Jane“ von den Rolling Stones und bemerkte bitter, dass das vor wenigen Jahren noch verboten gewesen sei.
Der Autor dieser Zeilen ging 1981 nach Potsdam und spielte dort ganz kurz in einer Band aus der Punkszene, für die es nie eine Möglichkeit gab, öffentlich zu spielen. Der Schlagzeuger verschwand kurz darauf im Westen- Mitte der 80er dann ein allgemeines Phänomen der Rockszene der DDR- viele Musiker gingen nach drüben.
Also- dies sind nur einige ungeordnete Erinnerungen. Vielleicht gibt es noch mehr, jedenfalls ist das Projekt einer Greifswalder Rockhistorie eine gute Idee.