David Foster Wallace: In alter Vertrautheit: Storys
- Verlag: rororo
- ISBN-10: 3499245787
- ISBN-13: 978-3499245787
- Originaltitel: Oblivion
Vor zwei Jahren schied ein amerikanischer und in Europa weithin unbekannter Ausnahmeautor freiwillig aus dem Leben. Das umfangreiche Hauptwerk des talentierten David Foster Wallace „Unendlicher Spaß“ erschien erst letztes Jahr in deutscher Sprache, und der Übersetzer Ulrich Blumenbach erhielt dafür auf der Leipziger Buchmesse den Preis für die beste Übersetzung. Blumenbach übersetzte ebenfalls zwei von fünf Kurzgeschichten, die in dem Band „In alter Vertrautheit“ – so der Titel der letzten Story – zusammengefasst herausgegeben wurden.
Auf den ersten Blick haben die Geschichten thematisch nichts miteinander zu tun. Neben der Kurzgeschichte eines Projektleiters, der Konsumenten befragt (Titel: „Mr. Squishy“) finden sich Erzählungen von einem gefährlich geistig gestörten Gemeinschaftskundelehrer („Die Seele ist kein Hammerwerk“), einem Kleinkind, das versehentlich verbrüht wurde („Inkarnationen gebrannter Kinder“), einem südamerikanischen Dorf, das ein Wunderkind hervorbringt und nach gewisser Zeit sich von diesem distanziert („Noch ein Pionier“), sowie dem offenen Bekenntnis eines Heuchlers („In alter Vertrautheit“). Trotz diesem scheinbar willkürlich wirkenden Themenkonglomerat gibt es ein Element, welches sich durch das Buch zieht und in der Kontextualisierung besteht. So setzen die Erzählungen mit einem fest abgesteckten Rahmen ein, in der sich ein Plot entfaltet; nur ist diese dadurch entstandene Fläche völlig marginal, da sie lediglich als Anlässe funktionieren. Wallace tobt sich also nicht innerhalb dieser Fläche aus, sondern verpasst ihr Furchen und die scheinbar langweilige Rahmengeschichte bekommt eine ungeahnte Tiefe, wenn beispielsweise in „Mr. Squishy“ (die Rahmenhandlung wartet mit einem riesigen Arsenal an Marketingtermini auf) die seelischen Abgründe des Protagonisten zwar nicht völlig durchleuchtet, jedoch angedeutet, werden, wodurch genannte Abgründe durch den Aspekt des Unbekannten noch bedrohlicher wirken. In „Die Seele ist kein Hammerwerk“ bedient sich Wallace einem ähnlichen – in gewisser Weise verdrehten Zug, denn hier bleibt der äußere Kontext relativ im Dunkeln. Man bekommt lediglich mit, wie der Gemeinschaftskundelehrer erst langsam, dann mit steigender Intensität, ‚Tötet sie alle‘ an die Tafel schreibt. Im Wesentlichen erfährt der Leser jedoch die aus kindlicher Fantasie entsponnen Geschichte eines abgelenkten aus dem Fenster schauenden Schulkindes, dessen Vorstellungskraft aber auch eine Erzählung imaginiert, die sich von einer niedlich rührenden Story in eine handfeste Katastrophe entwickelt und somit auf ungewohnte Weise auf die dramatische äußere Rahmhandlung reagiert. Und auch wenn der Ausgang jenes Kontextes, in dem die Geschichte des Schulkindes eingebettet ist, vage bleibt, eröffnet es auf der anderen Seite die Möglichkeit ein Teil der Wahrnehmung des phantasievollen Kindes zu werden.
Die Folge sind wunderbare Sätze, die zwar die Situation nicht aufklären, aber genannte Teilhabe ermöglichen: „Erst sehr viel später begriff ich, dass der Vorfall an der Tafel im Gemeinschaftsrunderaum das wahrscheinlich dramatischste und aufregendste Geschehen war, in das ich in meinem ganzen Leben verwickelt sein würde. Genauso wie bei der Sache mit meinem Vater bin ich aber dankbar, dass mir das zu jener Zeit gar nicht bewusst war.“ Zu diesem frühen Zeitpunkt der Kurzgeschichte weiß man noch nicht genau, was sich dort ereignen wird und die ‚Sache mit meinem Vater‘ wird nicht wieder aufgegriffen und steht im Dunkeln isoliert dort.
Ähnlich wird in „Noch ein Pionier“ der kontextuelle Rahmen benutzt, um auf den eigentlichen Plot einzuwirken. In diesem Fall bildet die äußere Ummantelung ein teilweise mitgehörtes Gespräch zwischen zwei Passagieren in einem Flugzeug. Die Gesprächsfragmente bergen einen Spielraum bei der Rekonstruktion der Erzählung von dem Wunderkind im indianischen Dorf und somit sind mehrere Versionen einzelner Aspekte innerhalb der Geschichte möglich.
Gerade damit ist die Stärke des Autors Wallace pointiert zusammengefasst worden: Das ‚Dazwischen‘ mit dem Universum an möglichen Variationen und wie er dieses ‚Dazwischen‘ mit unterschiedlichen Mitteln produziert. Damit beweist Wallace wie im Vorbeigehen (ob bewusst oder unbewusst ist hierbei egal), dass das unausgesprochene Wort noch die meiste Brisanz besitzt.{module Robert Klopitzke}