Nostalgie ist Traum, Traum einer historisierten Wirklichkeit, die einem das wohlige Gefühl einer Heimat vermittelt. Bei mir ist es das 19. Jahrhundert, was mein Wesen wärmt und meine Gedanken erhebt.
Daniel Kehlmann schreibt 2006 mit 30 Jahren ein Buch über zwei bedeutende Forscher des 19. Jahrhunderts, Alexander von Humboldt und Karl Friedrich Gauß. Damit trifft er bei mir den Nerv, die Kitschader, die Sehnsucht und die Heimatverbundenheit mit dieser Zeit. Das war damals noch etwas anderes, wenn neue Welten erkundet, Erdteile vermessen und Erfindungen getätigt wurden.
Ich fühle mich hineinversetzt; die Krawatte fällt locker im Wasserfall, Mr. Brummel ist noch allgegenwärtig, der Frack glänzt schwarz und mein Malakkastöckchen hat einen Elfenbeinknauf in Form einer Rosenknospe. Ich sehe die Mansardenfenster, hinter denen sich ein Genie wie Gauß befindet. Auch er ist mit Rock und Vatermörder angetan und läuft mit seinen Händen auf den Rücken hinter dem Fenster schemenhaft auf und ab. Ich sehe trotz der kleinen Fenster seinen mürrischen und unsteten Blick. Gleichzeitig fallen mir die Journale in die Augen, die gegenüber an einer hölzernen Bude verkauft werden. Wahrscheinlich ist das historisch inkorrekt, aber das ist eben die Freiheit eines jeden Träumers.
Bei mir mischen sich viele Stilelemente, von alter Kutsche bis Jugendstilpavillon, Kotillon und Tango, Reifrock und Straßenanzug. Als ich das Buch las, bekam ich wieder dieses Gefühl, was ich schon in der Schule hatte. Ich saß im Geschichtsunterricht, wir behandelten die Zeit nach 1815. Der Wiener Kongreß tagte, elegante Herren und noch elegantere Damen unterhielten sich gepflegt und amüsierten sich auf Bällen im Lichte tausender Kerzen. Die Folge war ein bis dato unbekannter Frieden, der wieder frischen Mut, Aufbauwillen und eine europäische Neuordnung nach sich zog. Es begann die Zeit des viel belächelten, aber doch heimlich nachempfundenen Biedermeier. Ich sehe hierbei mich, sehe, wie ich einer von mir verehrten Dame morgens halb elf einen Anstandsbesuch mache, sehe die sandigen Straßen, auf denen meine Kutsche dahineilt, sehe den Groom, der hinter mir auf dem Schwiegermuttersitz hockt und unverständliche Laute des Fluchens ausstößt, weil ich meinem Kutscher anwies, sehr eilig zu fahren. Ich höre Musik von Schubert, die in dem Salon der von mir verehrten Dame erklingt, ich geselle mich zu dem Kreis junger Stutzer, deren Kragenspitzen weit über dem Kinn aufhören, und deren Frisur à la Windstoß gegengebürstet ist. Natürlich besitze ich eine goldene Tabatière, ein Lorgnon und andere nützliche Accessoires. Aber ich bestaune auch die Lesungen eines Weltenbummlers, eines angesehenen Wissenschaftlers, der verrückt genug zu sein scheint, in den gefährlichsten Gebieten der Welt, ausgesetzt allerlei Gefahren von Wilden und lebensbedrohlicher Vegetation, seiner Arbeit nachgehen zu können. Er vermißt die Welt, er stellt Karten her, er errechnet Entfernungen, Flächen und Rauminhalte, er mißt die Ozeane, die Tiefen und Höhen, die Weiten des Meeres und er zählt die Stämme der Wilden, die ihm begegnen. Unentdecktes Land breitet sich vor ihm aus, wir lauschen gebannt seinem Berichte. Uns scheint es fast unwahr, tollkühn und gotteslästerlich, mit welch wissenschaftlichem Eifer dieser Mann die Geheimnisse der Welt entreißt. Ein anderer ist ein Mathematiker, der unsere Gemüter ebenfalls erhitzt. Ein Astronom, sagt man, ein Rechenkünstler, der die Lehren von richtig und falsch infrage stellt, ein Neunmalkluger. Unsere Salons entsprechen vielleicht nicht dem Almack-Club in London, haben aber eine ganz eigene, fast möchte man sagen ungestüme Atmosphäre. Man spürt das Kommen einer neuen Zeit, so viel passiert um uns herum, so viel hört man auch von fernen Ländern, so viel wird erforscht, erdacht und revidiert. Vielleicht ist es der Anbeginn einer Epoche, die wir zum Gebären bringen müssen. Bei gutem Punsche und Meerschaumpfeife diskutieren wir bis zum Morgengrauen. Erst wenn die Eimer der Mägde, die den Tieren Wasser holen und die Feuer entfachen, zu klappern beginnen, beschließen wir’s für’s erste. Ein Deutschland muß her, eine Nation, ein Gedanke. Berauscht von Wein und Idealen sinke ich in die Federn und schlafe tief ein.
Kehlmanns Buch ist ein Traumgeber, er rüttelt an meinen verschütteten Idealismus, an meinem Pioniergeist, an meiner Abenteuerlust. Neues naiv und vorurteilslos zu erleben ist wie altes liebevoll bewahren. Beides ist möglich, weil man beides ehrt, sich durch beides überraschen läßt und in beidem lebt.