Aus: Blaue Zimmer. Texte 1983-2014. freiraum-Verlag Greifswald, 2015.

1
Ein kurzes, dumpfes Signal kam aus der Tiefe unter ihrem Fenster. Wie aus der Tiefe eines Herzens. So soll sie es behauptet haben. Das Signal war so ganz anders als das Aufheulen einer Fabriksirene oder das Hupen eines Automobils. Es war das Signal eines Lastkahnes, der stromabwärts nach Holland fuhr.
Ein Schwimmer kreuzte ihm den Weg, um den Rhein zu überqueren.
 
Anna stellte sich auf die Zehenspitzen: So ein Schwimmer erschien ihr ungewöhnlich. Darüber ließ sie den Lastkahn bis nach Holland treiben, wo die Tage gelb und die Häuser klein und schneeweiß waren. Märchenhaft also, wie es Anna selbst gesehen hatte während einer Sommerreise gemeinsam mit den Eltern. 
Für den Schwimmer aber war schon das andere Rheinufer Holland genug.
 
Als Kind stand Anna am Fenster, um auf den Fluss zu schauen, wie auch später, als sie das Elternhaus schon längst verlassen hatte. Da sie als Kind oft kränkelte, war es so. Sie konnte allem zuschauen und machte sich ihre Vorstellungen dazu.
 
War das auch nur eine Vorstellung von ihr oder fuhr da eines Tages wirklich ein Floß unter ihrem Fenster dahin gleich einem Lastkahn? Auf dem Floß saß ein Mann. Neben ihm stand ein Holzkasten. Oder war das ein Käfig? 
Das Floß besaß ein Steuer. Aber der Mann, Anna nannte ihn jetzt bei sich den Grubetsch, ließ sich nur treiben. Er sah vor sich hin aufs Wasser, ohne das Steuer in die Hand zu nehmen. Dabei schauten seine Augen so zufrieden drein, als könne er Holland schon sehen.
 
Keiner wusste, wie Anna es geschafft hatte, auf das Floß zu steigen. Von ihrem sicheren Ausguck war sie abgestiegen, um das Steuer nun selbst in die Hand zu nehmen. Oder wollte sie bloß diesem Grubetsch näher sein?
 
Und so zog es Anna fort von ihrer Mutter. Die Mutter winkte ihr noch nach, als sei das ihre Aufgabe. Sie hatte dunkles Haar und stand beim Winken sehr aufrecht auf der kleinen Veranda, und zwischen den Geranienkästen.
 
Auch von ihrem Vater zog es Anna fort. Vielleicht hätte sie noch warten sollen, um den Vater mitzunehmen? Aber er musste im Dom geblieben sein, oder bei einem der Nachbarn, oder inzwischen an irgendeiner Straßenecke stehen, oder an einem Tapetenladen, oder an einem Brunnen, um zu reden – über dies und über das.
Anna sprach später immer vom Grubetsch, als wäre sie wirklich in seiner Nähe gewesen. So genau beschrieb sie das abgeschabte Leder seiner Schuhe.
Schon die Vorstellung dieses Mannes rührte sie an. 
Und sie schrieb über ihn auch eine Geschichte auf.
„Dich rühre ich nicht an“, ließ sie Grubetsch sagen, auf den Fluss hinaus. „Dich nicht, obwohl du auch nicht so gewöhnlich bist.“
„Und? Wie bin ich?“, wollte Anna wissen. 
Aber um sie ging es schon gar nicht mehr.
 
Und noch während Anna mit dem Grubetsch den Rhein entlangfuhr, ging sie schon durch Städte, die hießen Mainz und Köln und Heidelberg. In einer dieser Städte beobachtete sie dann auch einen Mann, der über den Marktplatz geführt wurde. Seine Hände waren gebunden. Von ihrem Ausguck aus, damals, hatte sie nie einen Gefesselten gesehen. 
Wenn der Fluss nun selbst schon die Steuerung übernommen hatte?
Vorn auf dem Floß saß also der Grubetsch; neben sich den Vogelkäfig, den Anna zuerst für einen Holzkasten gehalten hatte. Und im Käfig saß ein Vogel. 
Grubetsch saß weder in einem Käfig noch waren ihm die Hände gebunden. Wenn er nur wieder an Land wäre, würde er sich schon des Tags holen, was er brauchte; und des Nachts hatte er dann gute Träume. Manchmal ließ er sich von den Revolutionen erzählen, und vergaß es gleich darauf wieder; allein mit seinem Vogel.
Eines Tages verschenkte Grubetsch den Vogel.
 
2
Die Hoflaterne beleuchtete eine Pfütze im gerissenen Holzpflaster, einen weggeworfenen Pantoffel, einen Haufen verfaulter Äpfel …
 
Vielleicht war Grubetsch nur ein Gasstrumpf. So einer wie in der Laterne über Munks Kellertür. Vielleicht war Grubetsch selbst eine Grubenlampe in diesem Schacht von Hof.
Vielleicht hängte Anna ihre Wäsche nur ins Fenster zum Trocknen, damit sie das Licht anlockte mit diesem Weißflatternden, Lebendigen.
Denn wie lange wartete Anna nun schon auf ihr rotes, glühendes, leuchtendes Unglück?
 
Anna lebte erst fünfzehn Jahre auf der Welt.
Anna lebte auf einem Hof am Ende der Welt.
Aber auf diesem Hof war noch Welt übergenug.
Anna lebte mit ihrem Bruder Martin.
Annas Bruder Martin lebte mit Marie.
Und Marie hatte zur Anna gesagt, der Grubetsch sei wieder da, und es werde ein Unglück geben. Dann hatte Anna ihre Wäsche ins Fenster gehängt.
 
Verlieh die Marie einen Korb, und holte die Anna den Korb zurück, und das kam vor, dann musste die Anna über den Hof gehen. Wenn die Anna aber über den Hof ging, dann durfte sie nicht mit den Hüften wiegen oder gar vor sich hin trällern, denn auf dem Hof lebten wilde Tiere und die langweilten sich und warteten nur darauf, jemanden wie sie zu entdecken …
Grubetsch ging sein Leben lang nicht nur über einen Hof. Grubetsch kam und ging und kam dann wieder.
 
Im späten Herbst kam Grubetsch wieder und ging über den Hof. Er fasste eines der kleinen wilden Tiere am Kinn und ließ es zu sich aufschauen: „He, du!“ Noch keiner hatte es je so angesehen. Noch keiner hatte es gefragt, ob es mit auf den Fluss hinaus wolle, des Sommers, auf einem Floß. Und hätte Grubetsch das Kinn des kleinen wilden Tieres nicht so festgehalten, dann hätte es nicken können.
 
Von der anderen Seite des Flusses her kam Schlenker. Der holte sich die Mietgelder für diesen Schachthof. Aber selbst dann, als er die Mietgelder schon in der Tasche hatte, blieb er noch und suchte hier nach etwas, das sein altes schläfriges Herz klopfen ließ.
Martins Herz klopfte. Martins Herz klopfte, wenn er zur Marie nach Hause kam. Früher einmal war Martin in die Stadt gegangen, um sein Glück zu suchen. Jetzt kam Martin nach Hause zurück. In der Stadt ging er seiner Arbeit nach.
Grubetsch hatte weder Grund noch Boden, kein Dach und kein Fach, keine Frau und auch keine Familie.
Dem Martin tat der Grubetsch leid. Und der Grubetsch dachte vom Martin: „Der gefällt dir.“
 
Bevor der Grubetsch nun wieder auf den Fluss ging, begann er diese Geschichte:
„So nimm doch!“
„Was ist das?“
„Nimm doch, das ist für dich!“
„Für mich? Warum denn?“
„Nur so, so nimm doch! Der Vogel war immer bei mir. Was anderes hab ich nicht.“
Die Wäsche hing im Fenster zum Trocknen. Anna dachte: „Das soll mir gehören? Etwas Lebendes soll mir gehören!“
Und nun hatte sie also ihr Unglück: Der Vogel flog aus dem Käfig fort, und der Mann nahm sich eine andere Frau, weil er nicht ohne das sein konnte, was er brauchte.
 
Schlenker ging wieder über den Hof. Jeden Monat holte er sich ja die Mieten. Schlenker hatte eine Angst: „Jemand sieht mich, ist hinter mir her.“
Wer sollte da hinter ihm her sein?
Anna lag auf ihrem Bett vor lauter Unglück.
Martin trank in Munks Keller vor lauter Unglück, und vor lauter Langeweile, und ganz ohne Marie. Denn der Grubetsch hatte sich Martins Frau genommen und war mit ihr vom Hof gegangen. Aber noch im Sommer kam er zurück und nahm sich die Anna wieder: Etwas von ihrer Stirn, das musste er haben; und noch etwas in ihrem Leib.
War denn Grubetsch eine Laterne? Was suchten sie alle bei ihm das Licht? Grubetsch sagten sie von ihrer Langeweile. Was aber rückten sie zusammen, wenn er wieder vom Hof ging, und sangen und tanzten?
Als Grubetsch zurückkam, hörte er sie stampfen in Munks Keller. Die Harmonika spielte. Grubetsch roch endlich den Schweiß der anderen wieder und legte seine Hand auf irgendeine Hüfte.
Grubetsch wurde müde in der Wärme des Kellers, und die anderen sahen, wie Grubetsch müde wurde und sich über den Tisch beugte. Also wurde auch Grubetsch müde. 
Eine Frau sagte: „Jetzt kann man ihn loswerden.“ 
Dass er sich auch alles genommen hatte, was er brauchte.
So wurden sie ihn los.
Alles andere ohne Grubetsch ging dann gewöhnlich: Sie sagten, er wäre schon wieder hinaus auf den Fluss gegangen. Und als im Winter immer noch jemand auf Grubetsch wartete, sagten sie, man bräuchte nun nicht mehr zu warten. Und alle nickten dazu.
Nur die Anna schaut auf. Immer, wenn sie wieder ihre Wäsche ins Fenster hängt.