Ein Kontrabaß ertönt, im Hintergrund beginnt das swingende Rascheln von Jazzbesen (von der „Rock-muß-weh-tun“-Fraktion verächtlich Rasierpinsel genannt), ein Piano beginnt mit einem Mollakkord mit verminderter None, gefolgt von einem Majorseptakkord: der „Kenner“ merkt auf und spricht von Jazz; der Kunstform, von der Frank Zappa einst bemerkte, dass der Jazz nicht tot sei, aber schon sehr streng rieche.
Heutzutage wird vieles unter Jazz verkauft, was streng genommen keiner ist, z.B. die Zahnarzt-Wartezimmer-kompatible Musik von Norah Jones, die alles ist, nur kein Jazz im Sinne von improvisierter Musik; sondern seichter Klavierpop mit Jazzinstrumentarium eingespielt. Am anderen Ende des Spektrums findet man selbst in der Zeitschrift JazzThing häufiger Artikel über Hip-Hop-Formationen, die nur durch den Gebrauch von Samples aus dem Jazz mit Artikeln beehrt werden. Andererseits, wer entscheidet, was Jazz ist und was nicht? Wenn man die älteren Herren in existentialistischen schwarzen Rollkragenpullovern fragt, die das Wort Jazz noch deutsch betonen, finden wahrscheinlich nur freie Improvisationen Gnade vor deren gestrengen Ohren, was dann dazu führt, dass man sich zu den Eldenaern Jazzevenings den notorischen Joe Sachse jedes Jahr anhören muß.
Eine Grenzgängerin zwischen dem Jazz im ursprünglichen Sinn von swingender und songorientierter Musik, dem Blues und den weiter experimentellen Formen ist Cassandra Wilson. Die letzten Alben, teilweise produziert und mit eingespielt von Bluesgrößen wie Keb Mo, waren eher blueslastig, obwohl sie nie eine Festlegung auf das 12-taktige Tonika-Subdominante-Dominante- Schema akzepiert hatte und die Formsprache des Blues deutlich erweiterte. Im Filmprojekt über den Blues von Martin Scorsese interpretierte sie äußerst eindrucksvoll einen Song meines Lieblingsbluessängers J.B. Lenoir, obwohl sie diesen genialen Sänger erst durch den deutschen (!) Regisseur Wim Wenders kennenlernte, wie der in einem Interview erzählte.
Ihre Karriere startete sie aber als Jazzsängerin. Lange vor Norah Jones begründete sie den Boom der Sängerinnen im jazzigen Popbereich, wobei Cassandra Wilson nie weit in seichtere Popgefilde vordrang.
Mit Loverly hat sie ein fast „reines“ Jazzalbum vorgelegt: bis auf zwei Klassiker des Blues ausnahmslos Titel des American Songbook. Sparsam instrumentiert, in der Begleitung dezent mit Piano und Kontrabass, das Schlagzeug ergänzt durch Percussion, ein Gitarre hält sich diskret mit Akkordarbeit im Hintergrund, nur selten ein jazziges Solo spielend. Beeindruckend die unglaublich tiefe, volle Altstimme, die sehr unangestrengt sehr weit im Vordergrund des Mixes steht („Caravan“!).
Sicher ist das sehr gekonnt, die Songs allerdings sind eben Songs des erweiterten Realbooks, die irgendwann jeder Student einer Musikhochschule einmal spielt und die dann vom Überraschungswert teilweise irgendwo zwischen Bügelmusik und kompletter Langeweile rangieren. Interessanter ist die Interpretation der Bluesklassiker „St. James Infirmary“ und besonders des Elmore-James-Gassenhauers „Dust my broom“, den vermutlich jede Bluesband der Welt spielt (quasi alle englischen Bluesrockbands über Amiga Blues Band und sogar die lokale Greifswalder Basementtruppe; Fleetwood Mac schaffte es, diesen Titel ungefähr unter 7 Mal unter verschiedenen Namen auf ihr zweites Album zu packen). Diesen Song dekonstruiert Cassandra regelrecht-ein Schlagzeug schlägt einen geraden 4/4-Takt, die typische Triolenstruktur („Shuffle“), die diesen Song sonst kennzeichnet, wird durch Bass und Percussion erzeugt, ganz dezent das Slideriff, das diesen Titel kennzeichnet. Erst im Solo der Gitarre wird die typische Moll-Pentatonik bemüht, die sonst auf diesem Album eher selten auftaucht. Ähnlich die Interpretation von „St. James Infirmary“ mit einer funkigen Gitarre (wobei es die ultimative Version von The Stimulators gibt).
Uptempo- Nummern gibt es auf dieser Scheibe nicht. Insgesamt aber ein tolles Album für den Blues – und Jazzfan, wenn man ein Album für eine ruhige Stunde sucht.