Apokalyptische Geschichten, Reflexionen über Amerika und das Alte Rom, jede Menge religiöse Anspielungen und ein zutiefst düsterer Humor: „Tempest“ ist Bob Dylan so düster wie zu Zeiten von „Time out of Mind“ und so anspielungsreich wie wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Selbst Leonardo di Caprio geht nochmals mit der Titanic unter. Und John Lennon wird ein Ständchen gesungen.
Am Anfang pfeift der Zug und nimmt einen mit auf eine Reise durch das düstere Amerika, das Bob Dylan seit Jahrzehnten immer wieder neu erschafft mit seinen Liedern, die gleichzeitig Gegenwart, Geschichte und Mythen in historisch anmutende Bilder verwandeln. Es ist völlig gleichgültig, wo denn Duquesne eigentlich liegt, wo der Zug hinfährt oder herkommt. Wir sind hier jenseits der Realität in einer eigenen Welt gelandet, wo man auch für das, was man im Schlaf erzählt, irgendwann im Knast landen kann. In einer Welt, wo der Sänger mit Frauen geschlagen ist, die so dumm sind, dass sich selbst der Tod nicht mehr mit ihnen abgeben will. Eine Welt, deren nahes Ende immer wieder drohend angekündigt wird. Eine Realität, wo die „Titanic“ nochmals untergeht in einem Sturm und endlich auch Leo di Caprio versinkt in einem schier endlosen Walzer. Gehört der doch dank des Kinos für viele einfach zum Mythos des Schiffes hinzu. Und die frühen Könige im Alten Rom werden mit einem Blues ganz im stoischen Stil des Hoochie Coochie Man abgefeiert.
Musikalisch ist „Tempest“ typisch der Dylan aus den letzten Jahren: Er vermischt uralten Blues und Folk mit Rock, Walzern und Country und siedelt das Ganze dann notfalls auch noch in die Nähe der Grenze zwischen Texas und Mexiko an. Es ist seine Band, mit der er seit Jahren auf Tour ist, die auch schon das Weihnachtsalbum eingespielt hat. Und auch der seit Jahren immer wieder mit seinem Akkordeon begrüßte David Hidalgo ersetzt eigentlich eine ganze Hornsection mit seinem Spiel. Das ist die Band, die man schon ewig zu kennen glaubt. Irgendwie sind diese rumpelnden, rauhen und hypnotischen Klänge schon fast so zeitlos und ewig wie die Songs, die sie spielen.
Die Dylanologen feiern schon wieder die Bildsprache des Albums und ziehen Linien bis zurück in die Zeit der Ballade über den „Thin Man“, dieser gruseligen Geschichte, in der scheinbar alles möglich ist und man sich niemals sicher fühlen kann. Und die die Zugmythologie feiern sie ebenso wie die Bezüge zwischen alten Shanties, der Titanic und der Barke von Cleopatra. Und erstmals kann ich deren Begeisterung für die Details ein wenig nachvollziehen. Denn immer wieder tauchen beim Hören einzelne Anspielungen auf, die einen Deja vu-Effekt auslösen, die man schon immer zu kennen glaubte. Und deren Ursachen dann irgendwo in einer weiteren oder näheren Vergangenheit gefunden werden können. Wenn dann zum Ende Dylan ein Klagelied auf Lennon anstimmt, dann sind selbst die Spezialisten überrascht. Denn so deutlich war er in seinen Bezügen nur ganz selten. „Tempest“ – auch die Anspielung auf Shakespeares letztes Stück wird gehörig durchgekaut mit der Frage: Sollte das hier Dylans letztes Album sein? Vom Standpunkt der Kritik könnte man zu zwei Antworten kommen: Ja, Tempest wäre ein würdiger Schlusspunkt, eine große letzte Äußerung eines der wichtigsten Künstler der letzten Jahrzehnte. Aber: Wenn Dylan mit über siebzig Jahren noch Musik schreibt und singt, gegen die Jungstars wie scheintote Zombies wirken, dann wäre es ein furchtbarer Verlust, wenn er jetzt schon verstummen würde.{module Bluespfaffe}