Bessie Smith war die erfolgreichste Sängerin des sogenannten „klassischen Blues“, doch sie war nicht die erste auf Platte aufgenommene Bluessängerin. Mit ihren Liedern prägte sie dennoch die Art des Bluesgesangs bis in die heutige Zeit.
Im Jahre 1920 trat ein schwarzer Songschreiber namens Perry Bradford an die Okeh Record Company heran. Er hatte zwei neue Kompositionen anzubieten: „That Thing Called Love“ und „You Can’t Keep a Good Man Down“.
Bradford schlug vor, dass die Songs von Mamie Smith gesungen werden sollten einer schwarzen Künstlerin, deren Agent er war. Den Männern von Okeh gefiel die Musik, sie machten es aber zur Bedingung, dass sie von einer Weißen, der bekannten Vaudeville-Sängerin Sophie Tucker, aufgenommen wurde. Miss Tucker war aber zu der Zeit unabkömmlich, so dass Bradford schließlich seinen Willen durchsetzen konnte.
Die Aufnahme verkaufte sich gut genug, um Okehs Interesse an Bradfords Musik wach zu halten. Etliche Monate später schlug er prompt eine neue Platte mit Mamie Smith vor. Und was sprach dagegen, sie diesmal von einer schwarzen Band begleiten zu lassen? Okeh stimmte nach einigem Zögern zu, und das Resultat war, dass im August 1920 der erste ausschließlich von schwarzen Interpreten dargebotene Titel auf Platte erschien: „Crazy Blues“. Schon im ersten Verkaufsmonat wurden 100.000 Stück umgesetzt. Bradford triumphierte: Mit dem richtigen Material konnte man mit schwarzen Künstlern Platten an das schwarze Publikum bringen – selbst zu einem Stückpreis von 75 Cents. In Folge dieses Hits erschienen jede Menge neuer farbiger Sängerinnen auf Platte.
Die bei weitem großartigste davon war Bessie Smith. Sie wurde am 15. April 1894 in Chattanooga in Tennessee geboren. Sie war eines von sechs Kindern, die in tiefster Armut und, wie sie es später beschreiben sollte, in einer „kleinen, baufälligen Hütte“ aufwuchsen. Ihr Vater, der nebenher in einer Baptisten-Kirche predigte, starb kurz nach ihrer Geburt, ihre Mutter, als Bessie neun Jahre alt war.
Für jemanden, der Talent hatte, gab es nur einen Ausweg aus der Schufterei – sich den Vaudeville-Künstlern anzuschließen, die mit ihren Shows durchs Land zogen. Bessie, die sich seit ihrem achten Lebensjahr mit ihrer Musik an Straßenecken ein paar Cents verdient hatte, nahm diese Gelegenheit wahr. Ihr Bruder Clarence trat als Tänzer und Komiker in der Moses – Stokes – Show auf, und als Bessie 17 war, arrangierte er für sie einen Termin zum Vorsingen – sie wurde aufgenommen, doch nicht als Sängerin. sondern als Tänzerin. Zum Ensemble der Show zählte auch Ma Rainey, die zuerst mit den Rabbit Foot Minstrels, später auch auf Platte berühmt wurde. Ma Rainey nahm Bessie unter ihre Fittiche.
1913 trat Bessie im „81“ Theater in Atlanta in Georgia auf, wo der Schauspieler Leigh Whipper auf sie aufmerksam wurde. Er erinnert sich an jenen Abend:
„Sie war noch ein Teenager und hatte offensichtlich keine Ahnung, was für ein Talent in ihr steckte – und wie man sich für einen Auftritt zurechtmachte! Ungeschminkt, in ganz normaler Straßenkleidung stahl sie jedoch schon damals allen die Show!“
Einige Jahre lang verdiente sich Bessie ihren Lebensunterhalt in Nachtclubs, bei Karnevalsveranstaltungen, auf Zelt-Shows und durch Auftritte in Theatern für ein ausschließlich schwarzes Publikum. 1918 erhielt sie dann ein Engagement im Douglas Gilmore Theater in Baltimore.
Es waren zwei Themen, die nicht nur die Farbigen in dieser Zeit in den USA beschäftigten. Viele von ihnen waren Versprechungen gefolgt, sie könnten nach dem Militärdienst ein besseres Leben erreichen. Daher waren sie in den ersten Weltkrieg nach Europa gezogen. Doch als die schwarzen Soldaten nach Kriegsende heimkehrten und nun wieder als minderwertige Rasse behandelt wurden, brachen im ganzen Land Aufstände aus. Wieder einmal hatte sich herausgestellt, dass die Weißen nur leere Versprechungen gemacht hatten. Auf der Bühne nahm Bessie oft Stellung zu dieser Ungerechtigkeit, doch in ihren Aufnahmen finden sich selten sozialkritische oder politische Aussagen.
Das andere große Thema in den USA jener Zeit war die Prohibition. Am 20. Januar 1920 trat der 18. Anhang der amerikanischen Verfassung in Kraft, d.h. das staatliche Verbot, Alkohol herzustellen und zu verbreiten, das erst im Dezember 1923 wieder aufgehoben werden sollte. Wie viele Amerikaner trank Bessie selbst gebrannten Schnaps und war regelrecht süchtig danach. Etliche ihrer Songs oder zumindest Song-Titel nehmen unverhüllt Bezug auf Alkohol, darunter z.B. „Moonshine Blues“, „The Gin House Blues“, „Me and My Gin“ oder „Gimme a Pigfoot (and a bottle of beer)“. Die Jahre der Prohibition bedeuteten aber auch, dass Bessie genügend Arbeit hatte: Wie viele andere Künstler trat sie in Clubs auf, die sich meist im Besitz von Gangstern befanden, deren Haupteinkommen darin bestand, dass sie illegal Alkohol aus schenkten.
Bessie spielte ihre erste Aufnahme, die auf Platte erscheinen sollte, im Februar 1923 für Columbia Records ein. Nach Frank Walker, der im Studio Regie führte, sah sie
„wie alles Mögliche aus, nur nicht wie eine erfolgreiche Sängerin … Sie wirkte nicht älter als 17, war groß. dick und ungelenk – und hatte entsetzliches Lampenfieber. Es war furchtbar!“
Nach ein paar unbrauchbaren Einspielungen von „Tain’t Nobody’s Business If I Do“ und „Down-Hearted Blues“ verliefen die Aufnahmen am folgenden Tag besser. Nach zwei Anläufen wurden die dritten Versionen von „Down-Hearted Blues“ und „Gulf Coast Blues“ für plattenreif befunden. Innerhalb kurzer Zeit verkaufte sich Down Hearted Blues rund 800.000 Mal.
Die meiste Zeit des Jahres 1923 verbrachte Bessie entweder auf Tourneen oder im Aufnahmestudio. Damals bahnte sich auch die Zusammenarbeit mit Fletcher Henderson an, der einer der bedeutendsten Bandleader der Swing-Ära werden sollte. Henderson hatte einen beachtlichen (allerdings eher kommerziellen als musikalischen) Einfluss auf die Anfänge von Bessies Karriere. Er organisierte viele ihrer Sessions, auf denen er sie entweder allein auf dem Klavier oder zusammen mit ein oder zwei weiteren Musikern, manchmal auch mit einer größeren Band begleitete.
Im Mai 1924 trat Bessie zum ersten Mal in Chicago auf, dem Blues-Zentrum des Nordens, am 24. September desselben Jahres gab sie das erste von etlichen Konzerten im Lafayette Theater in New York in der 132. Straße. Von den Zeltshows des Südens hatte sie es ins Zentrum und ganz nach oben geschafft.
Im März 1928 spielte sie „Empty Bed Blues“ ein. Der Song (in dem immer wieder vergeblich Diskretion verlangt wird!) enthält fast ausschließlich diverse anzügliche Enthüllungen über die Liebeskünste des Geliebten. Die Anspielungen sind so direkt, dass man diesen Titel nicht anders als pornographisch bezeichnen kann. So weit war Bessie bisher noch nie gegangen. Ende der 20er Jahre gingen die Verkaufszahlen weiter zurück, und die wenigen Songs, die Bessie noch einspielte, hatten alle einen mehr oder minder pornographischen Anstrich. Paradoxerweise gehören zwei ihrer Aufnahmen aus dieser Zeit, „Nobody Knows You When You’re Down and Out“ und „Kitchen Man“ – aus dem Jahr 1929 zu ihren besten Songs. Im selben Jahr wirkte sie in ihrem ersten und einzigen Film „St Louis Blues“ mit, der bis 1932 recht populär war.
Am 2. September 1929 stand der Börsenkurs so hoch wie noch nie. Am 30. September brachte Columbia den prophetischen Song „Nobody Knows You When You’re Down and Out“ heraus, und im Oktober kam der Börsenkrach und führte zur Weltwirtschaftskrise. Bessie spielte 1930 und 1931 noch einige Titel ein, ehe eine zweijährige Aufnahmepause folgte. Ihre Kollegen und Rivalen, u.a. Josephine Baker und Ethel Waters, standen am Anfang ihrer internationalen Karriere, doch Bessies Sternstunde neigte sich dem Ende zu. Anfang 1933 entschloss sich John Hammond, ein wohlhabender Jazz-Fan, eine Session mit Bessie zu finanzieren. Sie war, sagte er,
„völlig baff über mein Angebot. Für sie war es unvorstellbar gewesen, dass sie je in ihrem Leben noch einmal ein Aufnahmestudio betreten würde. Und ich glaube, sie traute mir anfangs nicht ganz.“
Damals lebte sie mit Richard Morgan, der durch den Handel mit schwarz gebranntem Alkohol reich geworden war. Die Aufhebung der Prohibition sollte jedoch ein Ende des lukrativen Geschäfts bedeuten. Obendrein war ihr Bluesstil nicht mehr gefragt, und sie verfiel in Depressionen. Sie startete mehrere, nur teilweise erfolgreiche Versuche, ihren Stil dem modernen Trend anzupassen.
Am 26. September 1937 kam sie in der Nähe von Clarksdale, Mississippi, bei einem Autounfall ums Leben. Nach Gerüchten war ihr die Behandlung in einem Krankenhaus für Weiße verweigert worden. Unwiderlegbaren Beweisen zufolge wurde sie aber sofort in ein Krankenhaus für Schwarze in Clarksdale eingeliefert (das allerdings wesentlich weiter entfernt war als das am Wege liegende für Weiße; doch dorthin wagten sich die Fahrer des Krankenwagens mit ihr gar nicht erst), doch jede Rettung kam zu spät. Ihr tragischer Tod sorgte in den weißen Medien für weit größeres Interesse, als man ihrer Person dort zu Lebzeiten je gezollt hatte. Doch nach ihrem Tod drohte sie langsam in Vergessenheit zu geraten; erst Janis Joplin spendierte später ihrem großen Vorbild einen Grabstein und erinnerte damit auch die jungen weißen Hippies an die „Kaiserin des Blues“. Heute zählt sie zu den Künstlerinnen, deren Gesamtwerk eigentlich ständig lieferbar bleibt.