5. März 2015. Und es geht wieder los: Wieder droht der Grand Prix, ach nein, Eurovision Song Contest heißt das ja seit einigen Jahren. In Wien sollen nach dem Sieg der bärtigen Diva Conchita Wurst die nächsten Sangeskünstler antreten. Heute geht es um die deutsche Vorentscheidung. Ich habe spontan beschlossen: Ganz ohne Party werde ich mir das Ganze antun und ohne zeitlichen Abstand ungefiltert die Eindrücke zu Papier bringen. Man könnte es auch twittern, wäre vielleicht in Zeiten der sozialen Medien die auffälligere Variante der Berichterstattung. Aber für so wichtig halte ich meine Person denn doch nicht.
Die deutsche Vorentscheidung zum ESC 2015: Andreas Kümmert gibt den Sieg ab.
Es ist 20.13 Uhr, genügend Getränke (ohne Alkohol) sind vorhanden, das Tabakpaket liegt bereit.
20.15. Uhr: Conchita singt ihren James-Bond-würdigen Bombast-Pop zum Einstieg. Oder sollte man sagen: Operetten-Pop? Egal, auf jeden Fall bombastisch mit Streichern und großer Pose.
„Wir sind der neue Musikantenstadl“ meint Barbara Schöneberger zum Einstieg. Sollte das eine Drohung sein? Den Einstieg machen Mrs. Greenbird mit ihrem niedlichen Country-Pop. „Shine Shine Shine“ ist niedlich und bezaubernd. Und mit B. and macht das wirklich Spaß.
20.29: Alexa Feser singt über „Glück“. Und Udo Lindenberg macht vorab Werbung dafür. Deutschpop mit Klavier. Nicht mein Fall. Ist das Grönemeyer auf weiblich? Ok, das ist gemein…
20.35: Faun liefert die mittelalterliche Klangkulisse. Sie nennen es Pagaon-Folk. Und natürlich mit Dudelsack, Drehleier und schönen Frauen. So marktgerecht wie belanglos. Hörst Du die Trommeln? Ja, doch ich mag sie nicht.
20.40: Noize Generation mit DJ-Pop mit Piano, Robot-Tänzern – „A Song For You“: irgendwie weiß der Künstler nicht, ob er sich Electronic trauen soll oder doch nicht. Die Nummer ist unausgegoren und damit ziemlich nervig. Und der Sänger zeigt Unsicherheiten in der Intonation, die auch durch das Uhuhu nicht verschwinden.
20.46: Ann Sophie: tolle Stimme. „Jump The Gun“: schöner Groove. Könnte ein Hit werden. Mit Band auf der Bühne wäre das allerdings wesentlich spannender.
20.52: Fahrenhaidt nennen ihre Musik Nature Pop. Ich nenne ihr „Frozen Silence“ die musikalische Umsetzung einer kitschigen Winterpostkarte. Genauso poliert und belanglos, weil die persönlichen Grüße auf der Rückseite eben nicht vertont wurden sondern nur das Kitschmotiv. Enja ist Hardcore dagegen.
20.58: Laing machen deutschen Electro-Pop. Die Girl-Group des Abends auf Hometrainern. Text voller unterschwelliger sexueller Anspielungen und Witze über den Muskelwahn. Hat was. Aber eigentlich ist das nur wieder eine Neuauflage von NDW.
21.04: Andreas Kümmert – tolle Stimme (ok, wer bei VoG gesungen hat, sollte die haben). „Home Is In My Hands“ ist als Song nicht schlecht, aber auch nicht wirklich umwerfend. Lagerfeuer-Romantik. Ich glaub, ich entscheide mich doch für Mrs. Greenbird.
21.25: Ich hab mich geirrt – Mrs Greenbird hats nicht ins Halbfinale geschafft. Andreas Kümmert, Laing, Ann Sophie und Alexa Faser sind weiter.
„Das Gold von morgen“? Der Grönemeyer-Eindruck vertieft sich beim zweiten Lied von Alexa Faser. Leider nicht nur bei ihrem Gesang, sondern auch beim Text. Ist wirklich nicht meine Musik. Aber der Auftritt ist wirklich in Ordnung.
21.31: Weiter mit dem zweiten Lied von Ann Sophie. „Black Smoke“ ist auch wieder Powerpop, nicht so gut wie ihr erstes Lied. Aber die Performance ist wesentlich sicherer.
Laing allerdings hat mit „Wechselt die Beleuchtung“ eindeutig eine richtig langweilige Nummer ausgesucht. Kein Witz, kein Überraschungseffekt. Lahm und ärgerlich. Da hilft auch die Performance mit Licht und Klamotten nicht weiter.
21.41: Nochmal Andreas Kümmert. Mehr Power, mehr Dampf dahinter – die Cockervergleiche im Netz sind natürlich daneben. Aber das ist ein guter Sänger, der auch ziemlich gute Songs schreibt. Der bräuchte vielleicht ne wirklich fette Soulband mit Gebläse. Und dann würde die Halle explodieren.
21.57: Ach nein, die ziehen es bis zum Finale durch. Wie lange soll ich noch die oftmals witzigen aber manchmal auch einfach nervigen Moderationen von Barbara Schöneberger ertragen?
22.01: Ann Sophie mit „Black Smoke“ und Andreas Kümmert mit „Heart of Stone“ sind im Finale. Beide absolut radiotauglich. Kümmert hat den linkischen Charme auf seiner Seite. Ann Sophie wächst mit jede Song auf der Bühne. Aber „Black Smoke“ ist ziemliche Fließbandware ohne den Wow-Effekt.
Aber nun nochmals Conchita Wurst mit ihrem neuen Song; Musikalisch belanglos. Also wird es wohl ein Hit. Aber eigentlich sollte er wohl mal ein Praktikum bei Lady Gaga und Madonna machen.
22.22 Uhr: Andreas Kümmert hat gewonnen. Keine schlechte Entscheidung. Er nimmt die Wahl nicht an und gibt an Ann Sophie ab. Was für ein seltsames Ding. Aber er meint: sie passt viel eher dahin. Er wäre nur ein kleiner Songwriter… Jetzt hat die ARD ihren Grand Prix-Skandal an der Backe. Und Deutschland hat den Song im Rennen, den es verdient: Das wird nix mit einem Sieg, sage ich jetzt mal voraus.
PS.: Erst hinterher hab ich gelesen, dass Kümmert die Tage eine Anzeige wegen „sexueller Beleidigung“ von Konzertbesucherinnen bekommen hat, die er bei einem Auftritt beschimpft haben soll.