Erstes Kapitel

Paulina Schulz – Das Eiland
Erstes Kapitel

Ich sehe ihn da liegen, inmitten von Kälte. Er friert, denke ich. Sein eingefallener Mund hat einen bläulichen Rand, es sieht aus, als wäre er von Schimmel befallen. Seine Haut weist sonderbare Flecken auf, ein monochromes Muster in bläulich-beige: unmerkliche Verschiebungen über den spitzen Wangenknochen, unterbrochen von den grauen Bartstoppeln. Es würde sich gut machen in Schwarz-Weiß, denke ich. Die fleckige Struktur der sich auflösenden Haut.
Er liegt da, inmitten von diesem kranken Weiß. Mein Vater, das Motiv, das ich fotografieren will, das Überbleibsel eines längst vergangenen Sommers.
Ich will, dass er atmet. Er soll atmen. Er soll so lange wie nur möglich der Luft ausgeliefert sein. Atmen soll er, und mich ansehen, wie ich über ihm stehe. Ich lächele ihn an. Es ist ein glückliches Lächeln. Ich lächele selten.

Manchmal liegen Frauen neben mir, danach. Mit ein wenig verdrehtem Kopf, zu mir gewandt, sodass die pulsierende Halsschlagader sichtbar wird. Als ob sie in mir die Beißhemmung auslösen, um Gnade bitten wollten. Nur: Nach neuesten ethologischen Erkenntnissen ist es das überlegene Tier, das dem unterlegenen seine Kehle zeigt. Um seine Macht zu demonstrieren. Sie liegen neben mir, präsentieren ihre schwächste Stelle und lächeln. Weil sie mich verschlingen würden, sollte ich die Spielregeln brechen. Frauen tun mir gut. Sie leben das Unerreichbare, sie lassen mich manchmal daran teilhaben. Mehr will ich nicht.
Doch ich will nicht an Frauen denken, während ich ihn betrachte, in all seiner Kälte. Ihn, der ein totes atmendes Ding ist.
Ich, eine abgetrennte Ganzheit.

*

Der Sand schluckte seine Schritte, ließ ihn lautlos werden wie eine Echse.
John lief auf den Sonnenuntergang zu, an seinem ersten Tag am Meer. Zwischen den grasbewachsenen Dünen hindurch führte ein ausgefranster Weg direkt in die andere Himmelsrichtung, in die glühende Sonne hinein. Das flirrende Rot schmerzte in seinen Augen, er kniff die Lider zusammen und versuchte, ein Gedankenfoto zu machen. John machte immerzu Kopffotos, er ließ das Licht auf seine Netzhaut fallen und speicherte das Bild im Gehirn; er erinnerte sich an jedes einzelne, jedes einzelne beschrieb er mit ein paar Sätzen in seinem Notizbuch. Die Kladde lag in dem großen Karton, in dem er zu Hause alle seine Bilder aufbewahrte.
Er fotografierte seit seinem zehnten Lebensjahr, seit dem Moment, als ihm sein Vater zum Geburtstag eine gebrauchte Spiegelreflexkamera von Canon schenkte.
Seitdem war die Welt eine Spiegelung der Bilder. Die Welt geschah, damit er sie fotografieren konnte. John sah, nichts war schöner als Sehen, Sehen und Festhalten.
John sah das Meer.
Er hielt die alte Canon in der Hand und richtete sie auf das Wasser, tauchte mit dem Objektiv hinein, bestimmte die Blende, stellte die Schärfe ein, das Foto setzte sich fest. Ein neues schob sich davor und vor das danach, Wellenlinien, Lichtflecke.
Irgendwann ließ er die Hand sinken, es war dunkel, irgendwo da draußen verschoben sich unbemerkt Silhouetten von Schiffen. John kehrte um, das Wasserlicht in seinen Augen, John lief.

*

Das Ferienhaus stand inmitten einer Gruppe anderer Holzhäuser, dahinter der Wald, dahinter das Wasser.
Als er die Eingangstür öffnete, roch er die Ravioli, von denen seine Mutter eine ganze Palette eingepackt hatte. Es würde drei Wochen lang Ravioli aus der Dose geben, und aufgewärmte Graupensuppe und Erbseneintopf, dachte John und schlich die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Das Haus bestand aus zwei Stockwerken, unten Wohnzimmer, Küche und ein kleines Bad mit Duschkabine, oben zwei Schlafzimmer. Johns Eltern hatten das mit Aussicht auf den Wald, er nahm das mit Blick auf die Straße, weit, offen.
Seine Eltern saßen wohl in der Küche, Mutter kochte, Vater saß am Tisch, redete, erzählte ihr irgendetwas und sie hörte mit einem sanften, abwesenden Lächeln zu. John konnte das Bild vor sich sehen: Die Mutter sprach selten, wenig, ungerne, der Vater bestritt stets die Unterhaltung, genießerisch, vor Vergnügen sprudelnd, meist von sich selbst erzählend.
Erik war eine Wucht von Mensch, groß, großartig, leidenschaftlich in allem was er tat, er redete, aß, trank mit solcher Inbrunst und Freude, dass John manchmal das Gefühl hatte, sein Vater spielte das alles nur.
Bis er eines Tages nach der Schule in die Wohnung kam und seinen Vater – der an dem Tag im Büro krank geworden war – auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafend vorfand. Und da sah er, dass sein Vater sogar im Schlaf voller Inbrunst war, er schlief so intensiv und andächtig, dass John sich schnell in sein Zimmer schlich, die Kamera holte und – mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und sonderbarer Aufregung – seinen Vater fotografierte.
In den ersten Tagen streifte John stundenlang umher, entdeckte die Gegend. Jeden Morgen stand er auf mit diesem Gefühl in sich, einem Summen in seinen Adern, als hätte ihn jemand an eine unsichtbare Energiequelle angeschlossen.
Er stand stets früh auf, packte die Kamera, Essen und eine Flasche Wasser in seinen olivgrünen Stoffrucksack, lief los, zog umher, kilometerweit, kehrte irgendwann abends zurück, grüßte seine Eltern und fiel ins Bett. Er träumte Fotos, ganze Serien von rauschhaften Bildern, von Wasser, offenen Flächen, Himmel.

Manchmal verirrte er sich in den Wäldern und kam erst Stunden später wieder heraus, verloren zwischen den Säulen aus Buchen und Kiefern. Die Wälder erweckten eine Ehrerbietung und eine scheue Furcht in ihm, dass er sich durch sie wie ein Blinder bewegte. John tastete sich vor, Schritt für Schritt auf dem unebenen, von Moos und Flechten bewachsenen Boden, zwischen dem Totholz und dem Brombeergestrüpp hindurch – wie ein Partisan, dachte er, wie jemand, dessen Überleben vom Wald abhängt, von der Gnade der Bäume und der unsichtbaren Tiere. Er wusste, er würde lernen, den Wald zu verstehen, die Geräusche zu begreifen, die Pfade zu gehen auf dem Moos, durch die engen, von Heidelbeersträuchern bewachsenen Täler, durch den Adlerfarn, durch das Unterholz. Er würde lernen, die Wege zu erkennen.
Doch nicht jetzt, jetzt noch nicht. Im Moment gab es für John nur den Himmel und das Wasser und das Gefühl, irgendetwas würde sich ereignen, etwas, das er niemals vergessen, das er nie gänzlich begreifen würde.

Später sollte er sich oft an den Moment erinnern, als er zum ersten Mal das Meer betrat. Da war ein ruhiges Kräuseln auf dem Wasser, aus der Ferne, als er auf den Strand zulief, etwas trieb auf den Wellen, etwas Dunkles und Amorphes.

Er stieg die Düne hinauf, sah zuerst den Lichtschimmer über dem Wasser, dann das Meer, dann den Strand.
Er lief die Düne hinunter. Die Beschaffenheit des Sandes unter seinen Füßen veränderte sich, von warm und lose zu kühl, fest, hart. John blieb kurz stehen, warf eilig seine Kleider von sich, behielt nur die Unterhose an. Er trat ins Wasser, vorsichtig, überrascht von dessen Kälte. Er stand knöcheltief darin, schaute sich nach Quallen um, zuckte zusammen, als etwas seinen Fuß streifte, doch es war nur Seetang. Der Strand war fast leer abends, er bemerkte lediglich ein älteres Paar, das händchenhaltend auf den Weg durch die Dünen einbog, und weiter hinten einen Mann, einen davoneilenden Jogger.
Draußen auf dem Meer schlich eine vereinzelte Yacht, das Segel stach in die tief hängenden Wolken. Das Wasser biss in seine Füße, als er weiter hineinging, die Kälte schob sich über seine Waden, immer höher, bis er sich flach hinein warf. Ein dumpfes Geräusch entstand in seinen Ohren, verschwand dann.

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